Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
Ein cineastisches Highlight ist die französische Komödie Der Name der Leute nicht – zu possenhaft und gewollt erzählt der Film von Michel Leclerc die Geschichte einer Linken arabischer Herkunft, die mit Sex politischen Gegnern die rechte Gesinnung austreiben will, bis sie Arthur trifft, Sohn einer Schoa-Überlebenden. Man müsste über diesen Film nicht reden, wenn es da nicht diese Rezension von Arnold Hohmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung WAZ gegeben hätte, in der es hieß: »Und so trifft ein Halbjude eine halbe Araberin.«
Da ist es, das Wort: Halbjude. Wenn ich es höre oder lese, habe ich das Gefühl, dass etwas schiefläuft in Deutschland. Seinen Ursprung hat der Begriff in den antisemitischen Rassetheorien des 19. Jahrhunderts: im Dritten Reich wurde er dann zur administrativen Kategorie im Rahmen der Vernichtung. Viktor Klemperer sah in dem Wort nicht nur ein Instrument zur Abgrenzung all jener mit jüdischer Herkunft, sondern auch der perversen Zersplitterung der Juden untereinander. »Halbjude« gehört für mich in dieselbe Kategorie wie »Sonderbehandlung«, »Arbeit macht frei« oder »Jedem das Seine«. Nur dass diese begriffe mittlerweile tabu sind. Beim »Halbjuden« ist so viel Sensibilität nicht vorhanden.
unkenntnis Auch bei Arnold Hohmann offenbar nicht. »Ich kenne mich bei Ihnen nicht aus!«, erwidert er auf die Frage, ob er denn von der Matrilinearität wisse. »Ich hatte das Wort halt im Kopf. Vermutlich, weil wir seit vielen Jahren dauernd von diesen Nazi-Filmen überhäuft werden!« Ob er nicht wisse, frage ich ihn, wie verletzend das Wort ist? »Wenn es Ihnen auf die Füße fällt, werde ich ›Halbjude‹ wohl in Zukunft vermutlich nicht mehr benutzen.« Ich versuche es mit einem Scherz und zitiere sinngemäß Ignatz Bubis, der mal gefragt hat, welche Hälfte denn jüdisch sei – oben oder unten, links oder rechts? »Jetzt werden Sie mal nicht frech!«, reagiert der Journalist und knallt den Hörer auf.
Am nächsten Tag gibt die Redaktion der WAZ eine Erklärung ab: »Wir bedauern, dass in einer unserer Filmrezensionen der Begriff ›Halbjude‹ vorgekommen ist. Es ist Teil eines unreflektierten Sprachgebrauchs, wie er im täglichen, nicht zuletzt von Zeitdruck geprägten Handwerk eines Journalisten häufiger vorkommt, als uns recht ist. Bei näherem Nachdenken wird uns unweigerlich klar, dass dieser Begriff eine nationalsozialistische Erfindung mit rassistischem Kern ist. Wir bedauern die Verwendung des Wortes sehr und werden alles daransetzen, dass es in der ›Westdeutschen Allgemeinen Zeitung‹ nicht mehr benutzt wird.« Immerhin. Beim »Spiegel« hat sich niemand entschuldigt, als dort in den 80ern Rudolf Augstein Lea Rosh als »Vierteljüdin« bezeichnete.
»vaterjuden« Dabei könnten diejenigen, die von »Halbjuden« reden oder schreiben, sich wunderbar herausreden, wenn sie sich etwas besser auskennen würden. Unter Juden ist der Begriff nämlich auch verbreitet. Polina zum Beispiel ist 24 und mit zehn Jahren aus Riga nach Deutschland gekommen. Ihr Vater ist jüdisch, die Mutter nicht. Wenn sie von Deutschen gefragt wird, was sie denn eigentlich sei, sagt sie – Halbjüdin. »Für mich ist das kein schmutziges Wort, weil ich ohne diesen NS-Ballast aufgewachsen bin. Wenn es jemanden stört, dann sage ich es nicht. Ansonsten finde ich es halt eine bequeme Beschreibung. Man ist eben so jüdisch, wie man sich fühlt.«
Und jüdisch fühlt sich Polina. Die Familie ihres Vaters stammt aus Minsk, wo es eine große jüdische Gemeinde gab. »Ich verbinde damit vor allem Humor, Sprache, ein bisschen Essen – und das Privileg, andere Antisemiten nennen zu können.« Deshalb verletzt es die junge Frau, wenn man ihr sagt »Du bist ja gar keine richtige Jüdin!«.
Das hört Polina öfter, auch von Juden. Für viele von denen gehört sie nicht dazu. Als sie bei einem bekannten orthodoxen Rabbiner in Berlin Rat und Hilfe bei der Beerdigung für ihren jüdischen Großvater suchte, fühlte sie sich von ihm ausgegrenzt. Damit steht Polina nicht alleine. Die Integration von »Vaterjuden« ist für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland kein Thema. Die liberale Beth-Shalom-Gemeinde in München ist die große Ausnahme.
ausgrenzung In den USA hätte Polina es leichter. Dort schaut niemand die Tochter eines jüdischen Vaters und einer italienischstämmigen katholischen Mutter schief an, wenn sie sich selbstbewusst als »Italo-Jewish« bezeichnet. Manche amerikanischen Reformgemeinden nehmen wie selbstverständlich Kinder jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter auf. Bei uns dagegen gibt es Rabbiner, die nicht einmal einen nicht-orthodoxen Übertritt eines Elternteils akzeptieren. »Irgendwie jüdisch« ist in Deutschland keine anerkannte Kategorie. Und das, obwohl es hier inzwischen wahrscheinlich mindestens so viele »Vaterjuden« gibt wie »richtige«.
Vorigen Schabbat saß ich, statt in der Synagoge, an der Theke eines linken Jugendklubs in Berlin-Pankow und arbeitete an diesem Text. Als die Barkraft mich fragte, woran ich da schriebe und für wen, und ich sagte »für eine jüdische Zeitung«, fing er an, über Klesmer, Woody Allen und Erich Fried zu reden . Als ich ihm sagte, dass ich von allen dreien nicht so begeistert sei, fragt er: »Bist du denn Jude?« Ja, sagte ich. Und dann, in der Synagoge wurde wohl gerade das Lecha Dodi gesungen, hakte er nach: »Auch zu hundert Prozent?«
Geantwortet habe ich nicht, sondern nur gestarrt, bezahlt und bin gegangen. Kein ganzer Jude zu sein, das muss man sich nun wirklich nicht vorwerfen lassen. Egal von wem.