Im Februar 2021 startete das Projekt »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«, das deutschlandweit dazu aufrief, sich mit jüdischen Themen aller Art zu befassen. Die Münchner Volkshochschule (MVHS) stieg mit dem Programmschwerpunkt »Erinnerung für die Zukunft« ein.
Eine Reihe, die dabei in Kooperation der MVHS mit dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde entstand, erhielt den Titel »Zwiesprachen zwischen gestern und heute« und war Persönlichkeiten gewidmet wie Hannah Arendt, Walter Benjamin und Heinrich Heine, vorgestellt von Micha Brumlik, Wolfram Eilenberger und Wolf Biermann.
Das Besondere: Das Jubiläumsereignis endete im Dezember 2022, die Reihe ging weiter. Inzwischen gab es Zwiesprachen mit Grete Weil, Rembrandt und seinen jüdischen Nachbarn und Siegfried Kracauer. Und jüngst war der Literaturwissenschaftler und Publizist Thomas Sparr, der 2023 anhand der Rezeptionsgeschichte der »Todesfuge« eine Zwiesprache mit Paul Celan hatte, zu Gast in München, und zwar mit seiner Recherche zur »Biographie des Tagebuchs der Anne Frank«.
Verbreitung und Verwertung des Tagebuchs
Den Auftrag dazu hatte Sparr vom Anne Frank Fonds in Basel erhalten, den Otto Frank 1963 gründete, um die Verbreitung und Verwertung des Tagebuchs seiner Tochter, aber auch dessen Schutz zu gewährleisten. Sparrs Vortrag, angelehnt an seine faktengesättigte Studie in zwölf Kapiteln plus Epilog, erwies sich als spannende Zeitreise.
Sein erstes Streiflicht bezog sich auf den Staatsbesuch von Bundespräsident Gustav Heinemann im November 1969 in den Niederlanden. Während das Veto des damaligen Rabbiners Jacob Soetendorp den Besuch des deutschen Staatsoberhaupts im Anne Frank Haus verhinderte, gehört die Besichtigung inzwischen zum Standardprogramm.
Sparr belegte anschaulich die Würdigung des Tagebuchs, von dem es mehrere Versionen gibt.
Sparr belegte anschaulich die Würdigung des Tagebuchs, von dem es mehrere Versionen gibt, zwei allein von Anne Frank, die noch begonnen hatte, ihre Notizen für eine publikationsreife Fassung zu überarbeiten. Anne Frank wollte einmal Schriftstellerin werden. Fantasie, Leichtigkeit, Eleganz in Schreiben, Humor, alles, was ihre Aufzeichnungen widerspiegeln, trug zu dem infamen Gerücht einer Fälschung bei.
So studierte Sparr nicht nur Verlagskorrespondenzen, Theaterkritiken und Filme, sondern auch Gerichtsprotokolle. Ihn faszinierte die Wahrnehmung des wohl weltweit berühmtesten Schoa-Zeugnisses. In Japan steht die Pubertät der Heranwachsenden im Vordergrund. In München sorgte 1956 eine Aufführung an den Münchner Kammerspielen für Widerspruch, weil NS-Marschmusik eingeblendet worden war. Der Tausch einer echten Katze, wie es sie im Versteck gegeben hatte, zunächst gegen eine Schildkröte und dann gegen eine ausgestopfte, war dagegen marginal. Wer den Vortrag verpasste, sollte unbedingt Sparrs Buch lesen.
Thomas Sparr: »›Ich will fortleben, auch nach meinem Tod‹. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank«. S. Fischer, Frankfurt 2023, 336 S., 25 €