»Nationalsozialismus« – wenn Bastian diesen Begriff hört, verdreht er die Augen und gibt demonstrativ zu verstehen, dass ihn dieses Thema langweilt. Er wisse schon genug darüber, es tauche ja immerzu im Unterricht auf.
Hitler sei ein Verrückter gewesen, der alle Juden habe töten wollen, erklärt der Fünftklässler, bevor er mit überzeugter Stimme feststellt: »Das ist alles Vergangenheit und hat mit mir nichts zu tun.« Im Gegensatz zu seiner subjektiven Einschätzung weiß der zwölfjährige Schüler eines Gymnasiums in Hanau wenig über die NS-Zeit. Durchaus möglich, dass Bastian zu den Jugendlichen gehören wird, die auch nach dem Abitur nur geringe Kenntnisse über den Nationalsozialismus haben.
Weil Abiturienten erhebliche Wissenslücken aufweisen, wurde im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main unlängst das Forschungsprojekt »Reflexionen über die NS-Zeit und die NS-Pädagogik als Vorbereitung auf den Lehrberuf« auf den Weg gebracht. Mittels Fragebögen testete Professor Benjamin Ortmeyer mehr als 300 Studierende.
Das Ergebnis überraschte nicht nur ihn, sondern auch die Lehramtsstudenten selbst: Es offenbarte große Wissensdefizite etwa über die Verbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern und darüber, dass Juden aus ganz Europa in die Vernichtungslager geschickt wurden.
Lücken »Wie wenig Faktenkenntnis ich über die NS-Zeit habe, ist mir erst durch den Fragebogen klar geworden. Ich wusste beispielsweise nicht, in welche Länder die Nazis damals einmarschiert waren«, sagt selbstkritisch Adrian Oeser, der in Frankfurt Politikwissenschaft und Pädagogik studiert.
Dabei war die NS-Zeit in seiner Schulzeit alles andere als ein schwarzes Loch der Erkenntnis, wie sich der 24-Jährige erinnert: »Ich war auf einer linken Schule mit tollen Lehrern, aber rückblickend würde ich eher sagen, dass es im Unterricht mehr um die Konsequenzen ging, die aus den Gräueltaten zu ziehen sind, als um detaillierte Fakten.«
Ähnliche Erfahrungen hat auch Maika Baxa gemacht, die ebenfalls Erziehungswissenschaft studiert. In der Schule habe sie sich zwar »viel und intensiv« mit der NS-Zeit beschäftigt, aber Aspekte wie Verfolgung der Roma oder Eugenik seien gar nicht vorgekommen. Die Lehrveranstaltungen von Professor Ortmeyer zum Nationalsozialismus habe sie deshalb als Bereicherung empfunden.
Es waren aber nicht nur die Fakten, die bei Maika Baxa zu einem tieferen Verständnis der NS-Zeit und ihren ausgrenzenden und rassistischen Mechanismen geführt haben: »Ich fand besonders gut, dass es auch Gespräche mit Zeitzeugen gab.« Auch im Sommersemester besucht die Studentin ein Seminar bei Ortmeyer und will sich eingehender mit »Volk im Werden« beschäftigen. Die 28-Jährige plant, über diese zwischen 1933 und 1944 erschienene »Zeitschrift für Kulturpolitik« ihre Abschlussarbeit zu schreiben.
Recherchen Baxas Recherchen sind eingebunden in ein Anschlussprojekt, das Benjamin Ortmeyer und der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik initiiert haben: die Forschungsstelle »NS-Pädagogik«, die mit dem Fritz-Bauer-Institut und dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) kooperiert und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird.
In den kommenden drei Jahren werden die beiden Professoren mit Studierenden zehn pädagogische Zeitschriften aus der NS-Zeit durchforsten. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich Wissenschaft/Erziehung und Politik gegenseitig beeinflusst haben. Eine Hauptaufgabe der neuen Forschungsstelle ist es, Periodika wie »Volk im Werden«, »Weltanschauung und Schule«, »Die deutsche höhere Schule« und »Der deutsche Volkserzieher« zu analysieren und zugänglich zu machen. Ziel ist es außerdem, durch Publikationen und Veranstaltungen an Frankfurter Erziehungswissenschaftler wie Berthold Simonsohn oder Hans Weil zu erinnern, die vom NS-Regime verfolgt wurden.
Ortmeyer und Brumlik geht es um weit mehr als um Vergangenheitsbewältigung. Sie möchten künftigen Pädagogen erklären, wie die Mechanismen von Diskriminierung funktionieren – damals wie heute. »Uns beschäftigt die Frage, wie man Gruppen domestiziert oder wie man Untertanengeist und autoritäre Strukturen schafft«, erläutert Ortmeyer. Darüber müsse der Mathematiklehrer genauso Bescheid wissen wie der Kollege, der Deutsch oder Geschichte unterrichte.
Die Ergebnisse der Forschungsstelle sollen in die Lehre einfließen – in Seminare und Vorlesungen für Lehramtsstudenten oder angehende Pädagogen. Das Lehrmaterial und die Zeitschriften-Datenbank werden ins Internet gestellt und stehen dann allen Hochschulen zur Verfügung.
Anknüpfen Robert Neuner ist einer der angehenden Lehrer, die bei Ortmeyer Seminare zum Nationalsozialismus besucht haben. Der 29-Jährige hat Geografie, Arbeitslehre und Politikwissenschaft studiert und beendet in diesem Sommer sein Referendariat.
Auf seinen Beruf fühlt sich Neuner, der derzeit eine 5. Klasse in Gesellschaftslehre unterrichtet, gut vorbereitet. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder »die Figur Adolf Hitler« faszinierend finden und »du Jude« ein von Kindern tagtäglich verwendetes Schimpfwort ist. »Das Thema Nationalsozialismus gilt es, altersgemäß zu vermitteln und an die Lebenswirklichkeit der Schüler anzuknüpfen«, meint Neuner.
Durchaus möglich also auch, dass sich Bastians Abneigung gegen das Thema Nationalsozialismus legt, wenn er an Lehrer gerät, die Schülern den Bezug zum Heute vermitteln können.