Identität

»Fake Jews bedienen eine Marktlücke«

Die Judaistin und Historikerin Barbara Steiner über »Kostümjuden«, ihre Motive und den Fall Fabian Wolff

von Ralf Balke  27.07.2023 14:02 Uhr

»Manche verstricken sich in ihren Fantasien, die sie dann wirklich wie eine zweite Haut tragen«: Barbara Steiner Foto: Bildschön

Die Judaistin und Historikerin Barbara Steiner über »Kostümjuden«, ihre Motive und den Fall Fabian Wolff

von Ralf Balke  27.07.2023 14:02 Uhr

Frau Steiner, in Ihrer Dissertation beschäftigten Sie sich mit dem, was Sie die »Inszenierung des Jüdischen« nennen. Im Mittelpunkt standen dabei Personen, die zum Judentum konvertiert sind. Inwieweit gilt diese »Inszenierung« auch für solche, die eine jüdische Identität erfinden, so wie aktuell im Fall Fabian Wolff?
In meiner Dissertation ging ich vor allem der Frage nach, inwieweit ein Giur eine Art persönliche Problemlösungsstrategie ist und welche Rolle die deutsche Vergangenheit dabei spielt. Der Hintergrund: Nach 1945 wurden die jüdischen Gemeinden hierzulande mit einer auffällig hohen Zahl von Deutschen konfrontiert, die zum Judentum konvertieren wollten. Gewiss fanden sich in dieser Zeit auch einige, die eine jüdische Identität erfunden hatten.

Das Phänomen gab es auch schon damals?
»Fake Jews« sind in der Nachkriegszeit generell nichts Neues, immer wieder tauchten sie auf. Viele von ihnen zauberten dann auch Familienangehörige, die Auschwitz überlebt hätten, aus dem Hut, so wie Irena Wachendorff. Die Schoa nimmt in diesen erfundenen Lebensgeschichten oftmals eine zentrale Rolle ein. Doch auffällig ist, dass Personen wie Fabian Wolff, die ins Licht der Öffentlichkeit rückten, dann auch ihre politischen Positionen aus ihren Biografien ableiten.

Gern wird in diesem Kontext von »Kostümjuden« gesprochen. Trifft dieser Begriff den Kern des Phänomens?
Ich fremdele ein wenig mit dem Begriff »Kostümjuden«. Man läuft Gefahr, das Phänomen zu verharmlosen und zu glauben, dass dies alles nur irgendwie komische Figuren sind, die Theater spielen. Das verengt leider den Blick auf die wahre Problematik dahinter, und zwar die Langzeitwirkungen des Nationalsozialismus und seinen spezifischen Antisemitismus.

Was meinen Sie damit?
Es geht nicht um eine Posse, sondern um die Ausübung von Gewalt. Der Antisemitismus ist ja nach 1945 nicht einfach so verschwunden. Es gibt Kontinuitäten. Zu diesen gesellte sich eine philosemitische Spiegelung, die ebenfalls ein Begehren der nichtjüdischen Deutschen nach allem Jüdischen zum Ausdruck bringt. Und dieses ist oft übergriffig.

Wie kann es aussehen?
Es gibt ein tiefes Bindungsbedürfnis, das auch ohne Giur oder erfundenen Biografien funktioniert. Doch einige kommen davon nicht mehr herunter, daher der Wunsch mancher zum Übertritt zum Judentum oder die Legende vom Jüdischsein. Auf der einen Seite kann man es als Rache an sich selbst deuten, als Wunsch, sich beziehungsweise die verantwortliche Generation der Herkunftsfamilie für die Verbrechen der NS-Zeit zu bestrafen. Ehemalige Täter mögen so auch die Scham darüber, den Holocaust nicht zu Ende gebracht zu haben, bearbeitet haben. Auf der anderen Seite können »Fake Jews« auch ein Gefühl des Triumphs empfinden. Deutsche lassen von ihren Opfern nicht mehr los, wanzen sich quasi an die Juden heran. Sie wollen also weiterhin Macht über sie ausüben. Und genau das sind alte, wirkungsmächtige Gefühlserbschaften und Spuren von Täterschaft, an dieser Stelle kommen die antisemitischen Reflexe dann zum Vorschein.

Legen sich solche Menschen dann einfach nur eine neue Haut zu oder greift das insofern tiefer, als dass sie ab einem bestimmten Punkt ihre eigenen Lügen selbst glauben?
Manche verstricken sich in ihren Fantasien, die sie dann wirklich wie eine zweite Haut tragen. Doch in einem Teil ihres Bewusstseins gibt es noch das Wissen darum, dass sie eben keine Juden sind. Aufgrund meiner Recherchen bin ich überzeugt, dass es eine hohe Dunkelziffer von Lieschen Müllers gibt, die von sich behaupten, Jüdinnen oder Juden zu sein. Nur sind sie nicht in den Medien zu sehen. Personen wie Fabian Wolff sind da nur die Spitze eines Eisbergs.

Auffällig oft treten Personen mit einer erfundenen jüdischen Biografie wie Fabian Wolff als Kritiker der Politik Israels oder jüdischer Institutionen in Erscheinung. Bedienen sie nur ein Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft nach »gegen-den-Strich-gebürsteten« Juden?
Sie bedienen oft eine Marktlücke. Und das hat ebenfalls eine Menge mit den antisemitischen Reflexen zu tun. Fabian Wolff ist eigentlich der Antisemit, der er nicht sein will. Je prekärer eine jüdische Identität ist, umso größer das Bedürfnis, die Erwartungshaltungen derjenigen zu erfüllen, die nur einen wie ihn als Juden akzeptieren.

Können Sie das ein wenig erläutern?
Jemand wie Fabian Wolff entspricht dem Bild vom Juden, wie ihn die Mehrheitsgesellschaft gern hätte, den man aber in den allermeisten jüdischen Gemeinden nicht findet. Umgekehrt treibt ihn genau das an. Der neue Historikerstreit oder die Identitätsdebatten wirken dabei wie Katalysatoren, feuern jemanden wie ihn dazu an, Israel zu dämonisieren.

Fällt Ihnen in diesem Kontext ein besonders krasser Fall ein?
Es gibt den Fall einer Person, die die Fortsetzung der Täterschaft im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze trieb. Dieser Mann schloss sich nach seiner Konversion der radikal-antizionistischen Neturei-Karta-Sekte an, nahm mehrfach an dem berüchtigten Al-Quds-Marsch teil und leugnete irgendwann auch die Schoa. Letztendlich sprach er davon, dass Israel untergehen muss.

Wer sich eine jüdische Identität aneignet, legt oft einen auffälligen Mitteilungsdrang an den Tag. Besteht da ein Zusammenhang oder funktionieren »Fake Jews« auch ohne öffentliche Aufmerksamkeit?
Je narzisstischer eine Person veranlagt ist, desto größer der Wunsch nach Aufmerksamkeit. Nur würde ich aufpassen, das Ganze als Syndrom zu pathologisieren. Vielmehr sollte man den Langzeitfolgen des Nationalsozialismus auf den Grund gehen und sie verstehen lernen. Und jemand wie Fabian Wolff agiert meines Erachtens aus einem antisemitischen Reflex heraus nach genau diesem nazistischen Bedürfnis, sich über Juden und Jüdisches selbstwirksam zu fühlen.

Gibt es eigentlich eine Art Konjunktur für Personen, die eine jüdische Identität erfinden, also Debatten oder Kontroversen, die gerade dominant sind, auf die sie dann aufspringen?
Ja, die Beschneidungsdebatte ist ein gutes Beispiel. Damals meldete sich in Wien eine Person, die vorgab, Jude zu sein, als lautstarker Kritiker zu Wort. Dann stellte sich heraus, dass er wohl keiner war, weil es Probleme mit seinem Giur gab. Das große Thema aber ist Israel und der Wunsch nach seiner Dämonisierung.

Wenn sich Deutsche eine Identität aus einer der Gruppen aneignen, die zu den Opfern des Nationalsozialismus gehören, warum landen sie dann immer bei Juden und nicht bei anderen deutschen Minderheiten wie etwa Sinti oder Roma?
Der Antiziganismus ermöglicht einfach nicht die gleichen Bindungsoptionen wie der Antisemitismus. Zwar gibt es starke Vorurteile gegen Sinti und Roma. Aber es dominieren Bilder von bunt gekleideten Menschen, die betteln oder klauen. Das ist nicht attraktiv.

Einer der bekanntesten »Fake Jews« war Binjamin Wilkomirski. Er stammte aus der Schweiz. Ist dieses Phänomen also auch außerhalb Deutschlands zu beobachten?
Wilkomirski verweist auf die europäischen Aspekte des Phänomens, auch wenn es überwiegend ein deutsches und österreichisches ist. Er setzte mit seiner Opfergeschichte ganz klar auf Emotionen und wollte Mitleid. Aber all das führt zu der Frage, wo die Grenzen zwischen »echten falschen« und »falschen falschen« Juden liegen. Was ist beispielsweise mit dem polnischen Kellner im ehemaligen jüdischen Viertel in Krakau, der mit Kippa auf dem Kopf seinen Gästen die Getränke bringt? Auch er bedient letztendlich nur ein Bedürfnis, eine Leerstelle wieder zu füllen. Bis zu welchem Ausmaß wären Formen der kulturellen Aneignung des Jüdischen gerade noch zu tolerieren?

In den USA sorgte kürzlich der Republikaner George Santos für Schlagzeilen, als herauskam, dass er sich eine jüdische Herkunft erlogen hat. Inwieweit unterscheidet sich dieser Fall von Fabian Wolff und was wären die Gemeinsamkeiten?
George Santos wollte ganz klar Punkte auf dem Gebiet der Identitätspolitik sammeln. Doch mit seinem »Für-was-möchte-ich-mich-halten« hat er auch tief in die antisemitische Schmuddelkiste gegriffen. Er dachte wohl, dass im Bundesstaat New York viele Juden leben und diese nun einmal mächtig seien. Und wenn ich behaupte, einer von ihnen zu sein, wählen sie mich. So etwas tat Fabian Wolff natürlich nicht. Die Parallele besteht allein darin, dass wohl beide von dem Bedürfnis angetrieben waren, etwas Besonderes zu sein.

Mit der Judaistin und Historikerin sprach Ralf Balke.

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