Wolfgang Leonhard, 93, ist gestorben – und mit ihm mein ältester und bester Freund gegangen. Beide in der Jugend zeitweilig verstrickt in den politischen Irrtum des Stalinismus, hatten wir nach seiner Überwindung den Stoff für eine lebenslange Auseinandersetzung um die Unteilbarkeit der Humanitas gefunden. Der gemeinsame Feind: die »Internationale der Einäugigen«, deren eine Fraktion auf dem rechten, die andere auf dem linken Auge blind ist und die mit ihren jeweiligen Vorzeichen in einem Teil der Welt bekämpfen, was sie in dem anderen praktizieren.
Mit seinem autobiografischen Klassiker Die Revolution entlässt ihre Kinder (1955) hatte sich der Sohn kommunistischer Eltern früh zu Wort gemeldet. Es folgte ein Riesenwerk an Publikationen, das er unermüdlich über Jahrzehnte hin in die Welt hinausschickte. Mit der Mutter nach dem Machtantritt der Nazis in die vergötterte Sowjetunion geflohen, gerät Susanne Leonhard in die Fänge der großen Säuberung (zwölf Jahre Gulag), während sich der Sohn in Stalins Kasachstaner Kaderschmiede an höchster Stelle einer jahrelangen Gehirnwäsche ausgesetzt sieht.
Im April 1945 gehört der 25-Jährige zur berüchtigten »Gruppe Ulbricht«, Kerntrupp der Sowjetisierung des russisch besetzten Teils Deutschlands. Aber dann stellt sich heraus, dass die intensive Dogmatisierung den humanen Kern des hochgestiegenen Jungfunktionärs nicht zerstören konnte: 1949 Flucht nach Jugoslawien und weiter nach Deutschland, Köln.
Prinzipientreu Dort nun, im Windschatten seines Buches mit dem geflügelten Titel von der Revolution, die ihre Kinder entlässt, startet eine Karriere, wie der Ost-West-Konflikt sie kaum ein zweites Mal hergibt. Geifernder Antikommunist aber wird Leonhard nie, vielmehr ein differenzierender Publizist und Historiker mit unmissverständlicher Prinzipientreue zur westlichen Demokratie. Ein Gran emotionaler Nibelungentreue zum »russischen Menschen« und seiner unermesslichen Leidensfähigkeit war gleichwohl unverkennbar und macht ihn eher sympathisch. Obwohl er sich mit den unerquicklichsten Seiten des Kalten Krieges herumschlägt, bleibt das seine öffentliche Statur.
Nach mehreren Stationen wird das idyllische Eifelstädtchen Manderscheid dauernder Wohnsitz, Fluchtpunkt und Ausgangsort für ein Leben in ständiger Bewegung. Krönung dieser Vita: eine lange und erfolgreiche Dozentenschaft an der renommierten US-Universität Yale.
Abrechnung Nach der gemeinsamen Autorschaft in der Ostberliner »Weltbühne« (1948) haben wir uns 1959 persönlich kennengelernt. Für mich ein schicksalhaftes Zusammentreffen, nämlich die Geburtsstunde meiner literarischen Selbstabrechnung (Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg, von 1946 bis 1957). Titel des Buches: Die Partei hat immer recht. Nicht das Werk eines enttäuschten Kommunisten, sondern eine Anatomie des Stalinismus. Wie es dieser Partei gelang, mich zu gewinnen, eine Zeitlang zu halten und dann aus denselben humanen Gründen, die mich zu ihr geführt haben, auch wieder zu verlieren. 1961 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln, erschienen, veränderte es mein Leben vollständig. Sein Inspirator: Wolfgang Leonhard.
Während unserer lebenslangen Freundschaft habe ich einen Menschen kennengelernt, dessen hervorstechendes Merkmal sein Humor war. Obschon ohne Unterbrechung mit den dunklen Seiten der Weltgeschichte befasst, hatte Wolfgang Leonhard sich das bewahrt, was man ein »sonniges Gemüt« nennen kann. Dabei war klar, dass es sich hier um einen eingeschworenen »Kremlologen« handelte, der völlig auf die eigene Sache eingeschworen war. In dieser Sache war er ein wandelndes Lexikon, mit phänomenalem Gedächtnis, ein wandelndes Auskunftsbüro. Da konnte es sein, dass er, gefragt, was sein zeitweiliges Idol Josip Broz Tito im Januar 1953 gemacht habe, erschöpfende Auskunft gab ... Eine geradezu furchteinflößende Erfahrung, an die ich mich nie gewöhnen konnte.
Verwechslung Am unheimlichsten aber war, dass wir öffentlich ständig miteinander verwechselt wurden! Jedenfalls, nachdem das Fernsehen aufgekommen war. »Ach, lieber Herr Leonhard, was machen Sie denn in Berlin?«, so ein beispielhaftes Eigenerlebnis auf dem Kurfürstendamm. Und das kurz nachdem Wolfgang mir gerade von einem Frankfurter Passanten berichtet hatte, der vor Scham über die Korrektur seiner Begrüßung »Wie schön, Ihnen hier zu begegnen, Herr Giordano!« in den Boden versinken wollte.
Wer Wolfgang Leonhard sagt, der muss auch Elke Leonhard sagen, muss über mehr als ein halbes Jahrhundert hin die Tapferkeit und Unermüdlichkeit einer Frau rühmen, ohne deren Beistand und Begleitung der Verstorbene nicht denkbar wäre.
Der Chronist dieses Nachrufes muss nun fertigwerden mit einer Welt ohne den Freund, ohne die Möglichkeit, kurz zum Telefon zu greifen, um seine unverwechselbare Stimme zu hören oder über den neuesten Witz noch vor der Pointe zu lachen. Bis seine körperlichen Leiden es nicht mehr erlaubten. Ein langer Abschied.
Sein Vater war Jude, aber ich könnte nicht sagen, dass das in unseren Gesprächen eine große Rolle gespielt hätte. Und doch war die Person ganz und gar vom Jüdischen gezeichnet, einem Lebensgefühl, das selbst der Wortgewandteste nur unzulänglich definieren könnte – wie seine Bindung an Israel. Da ist ein Unersetzbarer abhandengekommen. Nun muss sich zeigen, wie es sich in einer Welt ohne ihn leben lässt.