Yishai Sarid

»Expertin für die Psychologie des Tötens«

Wie eine Gesellschaft nicht mit Kriegstraumata umgehen sollte

von Ayala Goldmann  25.02.2021 08:55 Uhr

Die Psychologin Abigail begnügt sich nicht mit »banalen« Zivilisten, die ihr Vater in seiner psychoanalytischen Praxis behandelt.

Wie eine Gesellschaft nicht mit Kriegstraumata umgehen sollte

von Ayala Goldmann  25.02.2021 08:55 Uhr

Sie ist »Expertin für die Psychologie des Tötens«: Die überambitionierte israelische Therapeutin Abigail, Hauptfigur des neuen Romans Siegerin von Yishai Sarid, begnügt sich nicht mit »banalen« Zivilisten, die ihr Vater in seiner psychoanalytischen Praxis behandelt.

Als Beauftragte für psychische Gesundheit der Fallschirmjäger-brigade versucht sie, Traumata schon vor ihrer Entstehung auszuschalten – und Soldaten das Gewissen abzutrainieren: »Das Militär hat die Aufgabe, die weichliche Mehrheit zum Töten auszubilden«, sagt sie in einem ihrer Vorträge vor jungen Rekruten.

ALLEINERZIEHEND Eine eigene Familiengründung hat die Therapeutin ausgeschlossen; ihren einzigen Sohn Schauli – Produkt eines One-Night-Stands mit dem Generalstabschef – zieht sie allein groß.

Ein echtes Privatleben kennt sie nicht, ihre besten Freunde sind ihre Ex-Patienten. Bei einem Treffen mit ehemaligen Mitschülern aus der Hochbegabtenklasse stellt Abigail fest: »Ängstliche Mittelmäßigkeit hing hier im Raum, keiner hier kämpfte für ein Ziel, alle jammerten nur und warteten auf den nächsten Auslandsurlaub und auf einen leichten Tod.«

Sie aber sieht sich für Größeres geschaffen: »Alle größeren Vorkommnisse in den israelischen Streitkräften – Gefechte, Zusammenstöße, Übungsunfälle, Anschläge – werden in meiner Praxis rekapituliert.«

»MÜLLDEPONIE« Siegerin zeichnet die Entwicklung einer Heldin nach, deren Skrupel immer mehr in den Hintergrund treten. Während sich die Psychologin anfangs schuldig fühlt, weil sie einen Soldaten trotz heftiger Angstzustände zurück an die Front geschickt und damit zu seiner schweren Erkrankung beigetragen hat, distanziert sie sich innerlich bei einem Besuch im Krankenhaus von dem »Verlierer« (»Ich mag psychiatrische Kliniken nicht. Sie sind die Endstation, die Mülldeponie, das Abbild meines Misserfolgs«) und lässt den Traumatisierten schließlich fallen: »Ich halte es jetzt mit den Starken, sage ich zu mir.«

Je stärker sich Abigail mit dem »Sieg« identifiziert, desto besser fühlt sie sich – bis ihr eigener Sohn Schauli nach einem Kampfeinsatz zusammenbricht. Wird sie den eigenen Sohn zurück in den Krieg schicken? Und was sagt der Generalstabschef dazu?

WARNUNG Wie schon in seinem Buch Monster (2019), das sich dem vergeblichen Versuch eines israelischen Historikers widmet, die Schoa zu bewältigen, überzeichnet Sarid seine Hauptfigur. Die kaltblütige Abigail und ihre Patienten – ein exakt konstruiertes Gefüge aus Gestalten, von denen keine einzige nachvollziehbares Glück kennt – sind wohl weniger als Abbild real existierender Personen zu lesen denn als Warnung eines Autors, der sich um die Zukunft sorgt.

Kriegstraumata entstehen in Israel, einem von feindlichen Nachbarn umgebenen Land, immer wieder neu. Wie eine Gesellschaft nicht damit umgehen sollte, beschreibt Yishai Sarid.

Yishai Sarid: »Siegerin«. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kain & Aber, Zürich 2021, 240 S., 22 €

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