»Dies wird ein anderer Krieg sein. Ein langer und harter Krieg. Und die Waffen werden die Hartnäckigkeit und die Geduld und die endliche Schwäche sein. Sie werden nicht standhalten.« Diese Einschätzung der Lage ist so brandaktuell, dass man sie wohl kaum in einem Roman (Das Lächeln des Lammes) vermuten würde, der bereits 1983 in Israel erschienen ist. Doch wer das beeindruckende literarische Werk des israelischen Autors kennt, den überrascht diese visionäre Kraft des ebenso wortgewaltigen wie einfühlsamen Schriftstellers nicht.
David Grossman, am 25. Januar 1954 in Jerusalem geboren, studierte Philosophie und Theaterwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem und arbeitete dann zunächst als Redakteur im israelischen Rundfunk. Im Alter von knapp 25 Jahren debütierte er mit Erzählungen. Es folgten Theaterstücke, Romane und Kinderbücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Alle seine Werke liegen mittlerweile in deutscher Übersetzung vor. 2008 erhielt Grossman den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Ironische Kommentare, bissige Witze
Der bislang aus literaturgeschichtlicher Sicht angesehenste Preis ist zweifellos der »Man Booker International Prize«, den er 2017 erhielt, und zwar für sein Buch Ein Pferd kommt in die Bar. Kritiker lobten an diesem ergreifend traurigen und auf grausame Weise komischen Roman nicht zuletzt die ungewohnte Sprache. Die ironischen Kommentare, die bissigen Witze des Protagonisten über den israelischen Alltag und die Politik sowie die wiederholte Verwendung von Slang spiegeln nämlich auch tiefgreifende Veränderungen in der israelischen Gesellschaft wider.
In der Dankesrede zur Verleihung des Erasmuspreises am 29. November 2022 reflektiert Grossman seine Berufung zum Schriftsteller: »Die Kunst, das Schreiben, hat mir großes Glück gebracht (…). Und auch, wenn mir das Schreiben Leid und Schmerz bereitete, war es doch ein Leid, das Bedeutung hatte, ein Schmerz, der entsteht, wenn ich die echten, die primären und für mich relevanten Stoffe des Lebens berühre. Die Literatur, das Schreiben lehrten mich das Vergnügen, etwas Zartes, Präzises zu schaffen in einer groben, düsteren Welt.«
»Wir werden der geliebten Verlorenen gedenken, aber sie nicht erstarren lassen.«
David Grossman
Es gibt Werke, welche die literarische Landkarte einer Nation verändern. Grossmans Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht zählt zweifellos zu diesen raren Büchern. Es ist ein Versuch, in das Herz der israelischen Existenz vorzustoßen und die Innenwelt des israelischen Lebens zu erkunden. Ein totales Werk, das im Zeitalter des Post- und Antizionismus den Alltag im Schatten von Kriegen und unendlichem Leid vor Augen führt.
Im Mittelpunkt stehen eine Frau und zwei Männer: Ora, ihr Ehemann Ilan und dessen langjähriger Freund Avram, der gleichzeitig ihr Liebhaber und der Vater ihres Sohnes Ofer ist. Der gemeinsame Lebensweg der drei Protagonisten seit dem Sechstagekrieg wird im Rückblick vor allem aus Oras Sicht erzählt. Der pessimistische Tenor des Romans ist unverkennbar. »Es ist sehr schön zu sagen: ›Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen‹«, zitiert Avram den berühmten Satz Theodor Herzls und fügt sogleich hinzu: »Und was, wenn einer aufhört zu wollen? Wenn er keine Kraft mehr hat zu wollen? Wollen, ein Märchen zu sein?«
Einige Jahre nach dem Tod seines Sohnes im Libanonkrieg 2006 legte Grossman sein bisher persönlichstes Buch vor: Aus der Zeit fallen. Ein Mann zieht klagend um die Stadt, auf der Suche nach seinem toten Sohn. Viele schließen sich ihm an, stimmen in seine Trauer ein, weil auch sie ein Kind verloren haben. Zusammen bilden sie einen vielstimmigen Chor, der all die Fragen stellt, die jeden Menschen beim Tod eines Angehörigen bewegen. An dieses stark autobiografisch geprägte literarische Werk knüpft nicht von ungefähr die Trauerrede an, die er jüngst in Tel Aviv für die über 1200 Terroropfer des 7. Oktober 2023 hielt: »Von jetzt an wird alles – oder fast alles – mit Schmerz beladen sein, wird alles Erleben binär werden: null oder eins. Sein oder Nichtsein. Tief im Inneren werden wir ihrer gedenken, der geliebten Verlorenen. Aber wir werden sie nicht erstarren lassen. Erstarren, Versteinerung bedeutet Tod, in der Bewegung aber liegt Leben.«
In der Kunst existieren Leben und Verlust nebeneinander
Vor genau zehn Jahren stellte ich David Grossman in einem Interview für die Jüdische Allgemeine die Frage, ob der Zionismus in seinen Augen versagt habe. Seine Antwort lautete: »In meinen Geschichten habe ich immer auch versucht, das außergewöhnliche Leben in Israel zu beschreiben. Um dort allein schon die einfachsten Alltagstätigkeiten zu erledigen, muss man die Angst überwinden und die Gewalt um einen herum ignorieren. Unser Leben im jüdischen Staat ist eine permanente Existenz am Rande eines Abgrunds. Das hat mehrere Gründe, vor allem aber die geopolitische Lage Israels. Wie man sich denken kann, ist das als Bürger alles andere als angenehm.«
In einer Rede, die ebenfalls in seinem neuesten, im Hanser-Verlag auf Deutsch erscheinenden Buch (Frieden ist die einzige Option) enthalten ist und die er im Sommer 2023 hielt, gibt er nicht dem Zionismus Schuld an der gegenwärtigen Entwicklung und dem scheinbar unlösbaren politischen Konflikt. Er klagt stattdessen die israelischen Politiker an, die die palästinensische Frage seit Jahrzehnten ignorieren und sogar noch Öl ins Feuer gießen.
Worin liegt das Geheimnis von Grossmans beeindruckender Kreativität? Auf diese Frage gab mir der Schriftsteller vor zehn Jahren folgende Antwort. »Das Leben ist sozusagen durch eine Barriere vom Tod getrennt. Wir wissen nicht, was sich auf der anderen Seite befindet. Kein Mensch war bisher dort und kam danach zurück. Aber selbst ich als nichtgläubiger Mensch fühle, dass wir durch die Kunst zumindest an der Außenseite dieser Barriere kratzen können. Im Grunde genommen ist die Kunst der einzige Ort, an dem Leben und Verlust nebeneinander existieren können.«