Herr Grossman, Sie gehören zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und sind eine Ikone der Friedensbewegung. Der Alltag zwischen den zermürbenden Kriegen und Terroranschlägen ist ein wichtiges Motiv in Ihren Büchern. Hat der Zionismus Ihrer Meinung nach versagt?
Lassen Sie mich mit meinen Romanen antworten. In meinen Geschichten habe ich immer auch versucht, das außergewöhnliche Leben in Israel zu beschreiben. Um dort allein schon die einfachsten Alltagstätigkeiten zu erledigen, muss man die Angst überwinden und die Gewalt um einen herum ignorieren. Unser Leben im jüdischen Staat ist eine permanente Existenz am Rande eines Abgrunds. Das hat mehrere Gründe, vor allem aber die geopolitische Lage Israels. Wie man sich denken kann, ist das als Bürger alles andere als angenehm.
Wie stark ist bei den Israelis angesichts dessen der Glaube an die Zukunft ausgeprägt?
Die Perspektive auf eine solide Zukunft ist natürlich sehr fragil. Wir Israelis sind uns nicht sicher, ob wir überhaupt eine Zukunft haben werden. In einer solchen Realität zu leben, hört sich entsetzlich an – und das ist es auch. Zumindest ist es sehr merkwürdig, ein Leben ohne Vertrauen in die eigene Existenz zu führen. Diese Grundangst ist immer da.
Woran genau machen Sie das fest?
Ein Beispiel: Kürzlich sah ich eine Dokumentation über Israel im Fernsehen. Der Interviewer, ein Amerikaner, fragte eine junge Braut, wie viele Kinder sie sich wünscht. Sie antwortete ganz selbstverständlich: »Ich möchte drei Kinder bekommen. Denn wenn ein Kind durch einen Terroranschlag oder im Krieg sterben sollte, bleiben mir immer noch zwei.« Daraufhin wurde der Reporter ganz bleich. Dabei ist es für viele Israelis leider eine ganz normale und akzeptable Antwort.
Diese Situation beschreiben Sie auch in Ihrem preisgekrönten Roman »Eine Frau flieht vor einer Nachricht«.
Ja. Während die Hauptfigur Ora mit ihrer Jugendliebe Avram durch Galiläa wandert, erzählt sie ihm ausführlich von ihrem gemeinsamen Sohn Ofer, der in den Krieg zog. Sie ist davon überzeugt, dass es das einzige ist, womit sie ihren Sohn im Krieg beschützen kann. Das mag magisch und naiv klingen. Doch genau darum ging es mir als Autor des Buches: In Anbetracht der Monstrosität eines Krieges müssen wir die Naivität nutzen, um uns daran zu erinnern, was wichtig ist.
Für Ihr neues Buch »Aus der Zeit fallen« haben Sie sich mit einer Mischung aus Prosa, Lyrik und Hörspiel für eine ungewöhnliche Form entschieden. Warum?
Eigentlich habe ich das gar nicht selbst entschieden, der Text hat es mir vorgegeben. Ein Buch über den Verlust eines Kindes zu schreiben, kommt dem Überschreiten aller Naturgesetze nahe. Deshalb musste nach meinem Empfinden auch die Form des Textes außergewöhnlich sein. Die kurzen Verse etwa spiegeln die Spannung wider, in der ich mich während des Schreibens befand. Denn einerseits wollte ich gar nicht schreiben. Andererseits musste ich schreiben – wie hätte ich in einer solchen Situation damals schweigen können?
Sie meinen den Tod Ihres Sohnes Uri, der 2006 im Krieg gegen die libanesische Hisbollah gefallen ist?
Ja. Als Uri starb, bekam ich viele Kondolenzbriefe von Schriftstellern aus aller Welt. In fast allen Briefen schrieben sie, dass sie sprachlos seien in Anbetracht meines Verlustes. Dabei handelt es sich bei diesen Autoren um Meister der Literatur und der Sprache. Deshalb dachte ich, dass es eigentlich unmöglich sei, keine Worte für die Trauer um meinen Sohn zu haben – so schwer das Schreiben auch sein mag.
Ein wichtiges Motiv des neuen Buches ist die Verbindung von Denken und Gehen. Wie hängen diese beiden Tätigkeiten bei Ihrem Schreibprozess zusammen?
Während des Schreibens gehe ich manchmal sechs, sieben oder acht Stunden lang hin und her, fast wie ein Gefangener. Womöglich kann ich es anders einfach nicht aushalten. Der Protagonist in Aus der Zeit fallen protestiert mit dem Gehen gegen den Stillstand der Situation, die durch die Trauer entsteht. Das Bedürfnis zu gehen ist jedoch nicht nur ein rein physisches Bedürfnis, sondern fördert auch meine Kreativität als Schriftsteller, was immens wichtig ist.
Inwiefern?
Ich habe entdeckt, dass wir durch die Kunst, ob Literatur oder Malerei, ein Stück weit auf die andere Seite schauen können. Das Leben ist sozusagen durch eine Barriere vom Tod getrennt. Wir wissen nicht, was sich auf der anderen Seite befindet. Kein Mensch war bisher dort und kam danach zurück. Aber selbst ich als nichtgläubiger Mensch fühle, dass wir durch die Kunst zumindest an der Außenseite dieser Barriere kratzen können. Im Grunde genommen ist die Kunst der einzige Ort, an dem Leben und Verlust nebeneinander existieren können.
Das Gespräch führte Anat Feinberg.
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen unter anderem »Diesen Krieg kann keiner gewinnen«, »Eine Frau flieht vor einer Nachricht« und »Aus der Zeit fallen«.