Martin Luther mochte die Megilla nicht, die am nächsten Sonntag in den Synagogen der Welt gelesen wird. Er befand, dass das Buch Esther zu sehr »judenzt«. Natürlich hatte der alte Antisemit vollkommen recht. Ja, das Buch Esther »judenzt« gewaltig – allein schon deswegen, weil dort zum ersten Mal in der hebräischen Bibel die Juden Juden heißen (und nicht Israeliten oder »Söhne Israels«).
Warum ist das so? Weil es sich um eine Diasporageschichte handelt. Man braucht gar keine Ortsangaben, um das zu begreifen – man muss nur auf die Namen achten. Bitte: Mordechai? So heißt ein Jid? »Mordechai« kommt eindeutig von »Marduk«, dem Stadtgott der Babylonier, der später zum Beherrscher des babylonischen Götterpantheons aufstieg. Und »Esther« kann die Herkunft von »Aschtarot«, der blutigen, grausamen Himmelskönigin, nicht eine Sekunde lang verleugnen. Mordechai, Esther: Das sind Diasporanamen von Assimilanten. Wie Sigmund und Albert, wie Bertha und Lise.
Das Buch Esther »judenzt« ferner, weil es humorvoll ist. Der Humor teilt sich heutigen Lesern nicht mehr ohne Weiteres mit, man muss ihn erklären. Nehmen wir etwa die Szene, in der Esther das Komplott des bösen Haman aufdeckt. Sie hat König Achaschwerosch zu einem Festmahl (lies: Besäufnis) eingeladen und seinen antisemitischen Minister dazu.
Volk Am ersten Abend wird nur gesoffen, am zweiten Abend spricht Esther Klartext. Als der König fragt, was sie sich von ihm wünscht, sagt sie: »Wenn ... es ihm gefällt, dann möge mir mein Leben geschenkt werden als mein Wunsch, und meinem Volk als meine Bitte. Man hat uns verkauft, mein Volk und mich, um uns zu erschlagen, zu ermorden und auszurotten.« Der König, erstaunt: »Wer ist er und wo ist er, der gewagt hat, das zu tun?« Esther antwortet: »Der Gegner und Feind ist dieser böse Haman!«
Damit haben wir den Gipfelpunkt der Geschichte erreicht, alle Plotfäden wurden zusammengeführt, und wir wissen: Jetzt löst sich alles in Wohlgefallen auf. Aber die Geschichte macht noch eine weitere tolle Schleife: Der König, voller Zorn über das, was er gehört hat, verlässt das Trinkgelage und geht (lies: torkelt) hinaus, um sich im Garten ein wenig die Füße zu vertreten.
Der böse Haman, der versteht, dass er verloren hat, sinkt unterdessen vor Esther in die Knie, die auf ihrem Diwan sitzt, und bettelt um sein Leben. Just in diesem Moment kommt Achaschwerosch aus dem Garten zurück und missversteht die Situation vollkommen: »Was«, schreit er, »jetzt willst du auch noch die Königin vergewaltigen?« Die zeitgenössischen Zuhörer haben an dieser Stelle der Megilla wahrscheinlich vor Lachen losgeprustet und sich auf die Schenkel geklopft.
wehrhaft Das Buch Esther »judenzt« schließlich auch, weil man vom Geist des christlichen Pazifismus wirklich gar nichts darin findet. Voilà: »Die Juden schlugen all ihre Feinde mit dem Schwert, sie metzelten und zerstörten; sie machten mit ihren Feinden, was sie wollten. In der Festung Schuschan töteten die Juden insgesamt fünfhundert Mann ... Der Rest der Juden, jene in den Provinzen des Königs, kämpften ebenfalls um ihr Leben. Sie verschafften sich Ruhe vor ihren Feinden und töteten 75.000 ihrer Gegner ...«
Die andere Wange hinhalten? Etwa gar den Feind lieben? Blödsinn! Nichts da mit Versöhnung und Vergebung. Eigentlich müsste die deutsche Friedensbewegung jedes Jahr zu Purim Demonstrationen vor den Synagogen veranstalten – mit Kerzen und Gesängen.
Im modernen Jargon gesprochen, geht es bei den Militäraktionen der Juden um Abschreckung. Haman hat die Welle der Gewalt losgetreten; er hat den antisemitischen Massen versprochen, dass sie die Juden bis auf den letzten Mann ermorden dürfen, Frauen und Kinder eingeschlossen; hinterher soll ihr Eigentum (die Geschichte spielt im alten Persien) buchstäblich »arisiert« werden. Der Befehl – oder die Erlaubnis – zum Pogrom kann nicht mehr widerrufen werden, auch nicht nach dem Tod von Haman. Alles, was den Juden nun noch übrigbleibt: Sie müssen dem Pogrom zuvorkommen.
Lektion Ihr Ziel dabei ist, dem Feind eine Lektion zu erteilen; die Herren Antisemiten sollen es sich künftig zwei mal überlegen, ehe sie Juden umbringen und berauben. Dabei halten die Juden sich an einen klar bestimmten rechtlichen Rahmen. Esther erbittet vom König eine offizielle Erlaubnis, ehe ihr Volk losschlägt; später bittet sie ihn, seine Erlaubnis noch um einen Tag zu verlängern. (Zwischen den Zeilen kann man lesen, dass er dazu nur widerwillig bereit ist.)
Wieder modern gesprochen: Die Juden haben ein UNO-Mandat. Außerdem wird mehrfach betont: »Sie streckten ihre Hand nicht aus nach der Beute.« Die Juden plündern also nicht, es ist ihnen nicht um ihren materiellen Vorteil zu tun. Sie hindern den Feind auch nach dem Sieg nicht am ökonomischen Wiederaufbau.
Verstören muss freilich, dass Esther darauf besteht, dass auch die zehn Söhne Hamans aufgehängt werden. Allerdings ist nirgendwo im Text davon die Rede, es handle sich bei jenen zehn Söhnen um Kinder. Wenn wir kurz an die erwachsenen Söhne des irakischen Diktators Saddam Hussein denken – an den irren Mörder Udaj und an Kusaj, den Schlächter der Schiiten im Südirak –, und wenn wir uns dann an den Jubel erinnern, der in Bagdad ausbrach, als die beiden ihren verdienten Tod im Kugelhagel der amerikanischen »Task Force 20« gefunden hatten, kommt uns die Episode mit den Söhnen Hamans vielleicht nicht mehr ganz so verstörend vor.
selbsthilfe Wo aber bleibt bei alldem Gott? Er wird in der Megilla nur an einer Stelle erwähnt, quasi im Vorübergehen. Esther meldet ja anfangs ganz unheldisch Zweifel an, ob sie wirklich ihr Leben riskieren soll, um beim König eine Audienz zu ergattern. Mordechai lässt ihr daraufhin ausrichten: »Glaube ja nicht, weil du im Königspalast lebst, könntest du als Einzige mit dem Leben davonkommen. Im Gegenteil, wenn du in diesen Tagen schweigst, wird den Juden von anderswoher Hilfe und Rettung zuteilwerden, während du und das Haus deines Vaters untergehen.«
In diese Formulierung hinein hat sich also der Allmächtige verkrümelt: Die Rettung für die Juden werde im schlimmsten Fall »von anderswoher« kommen. Das war es schon. Ansonsten handelt das Buch Esther nicht von Kadosch Baruch Hu, sondern vom Witz und Wagemut seines auserwählten Volkes. Ganz nebenbei wird damit auch die Legende widerlegt, in der Diaspora seien die Juden immer nur wehrlose Opfer gewesen. Von wegen! So erweist sich dieser Text als hervorragendes Antidot gegen das lähmende Gift des Selbstmitleids. Seine Moral ist einfach, aber nicht dumm: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.