Herr Meyer, Zürich ist Ihr Zuhause. Was geht Ihnen seit dem 2. März, als ein orthodoxer Jude in Zürich auf offener Straße lebensbedrohlich attackiert wurde, durch den Kopf?
Dass ich besorgt bin. Wenn Sie mich danach fragen, geht es mir schon seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr gut. Aber mit dem Angriff auf einen jüdischen Mann in Zürich ist nun noch etwas Zusätzliches dazugekommen, was extrem niederschmetternd ist.
Was macht diese Brutalität mit Ihnen? Haben Sie selbst Angst?
Die Angst ist größer als ohnehin schon. Aber nicht so groß, dass ich den Davidstern, den ich trage, ablegen würde. Ich gehe ja auch aus dem Haus und positioniere mich in der Öffentlichkeit. Meine Eltern sind aber genau deshalb seit dem 7. Oktober sehr besorgt um mich. Manchmal erhalte ich auch antisemitische Zuschriften. Aber ich lerne, damit umzugehen. Mittlerweile erkenne ich die »kontaminierten« E-Mails rasch und lese sie schon gar nicht mehr.
Sie haben bereits 2021, als Ihr Essayband »Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?« erschien, der Öffentlichkeit preisgegeben, wie Sie ein Leben lang latent mit Antisemitismus konfrontiert wurden. Hätten Sie gedacht, dass er aktuell so rau, so ungeschminkt in Erscheinung tritt?
Ganz ehrlich, ich hatte mich schon lange gefragt, wie viel es noch brauche, bis es zu diesen hässlichen Auswüchsen kommt, wie wir das vor wenigen Wochen hier in Zürich erlebt haben. Verbal war es aber schon vorher höchst problematisch. Man darf ja nicht einmal mehr gegen Antisemitismus anreden, weil man sonst als rechthaberischer, empfindlicher Jude abgestempelt wird.
Sie lassen sich doch nicht vorschreiben, was Sie sagen dürfen und was nicht.
Nein, aber niemand will sich einen Spiegel vor die Nase halten lassen. Niemand will hören, dass er ein Antisemit ist. Bei den meisten judenfeindlichen Bemerkungen, die ich in den vergangenen Jahrzehnten über mich ergehen lassen musste – ich habe einmal nachgerechnet, es waren circa 800 –, habe ich reagiert. Aber kaum jemand zeigte sich einsichtig oder bat um Entschuldigung. Viele haben sich sogar von mir abgewandt oder ich mich von ihnen.
Wie haben Sie konkret Antisemitismus erlebt?
Interessante Frage einer Jüdin gegenüber einem Juden. Das sollten Sie doch wissen.
Aber ich hätte gern eine Antwort von Ihnen.
Als Kind wusste ich bereits, wenn du eine jüdische Mutter hast, bist du auch jüdisch. Ich bin in einem gemischt-religiösen Haushalt aufgewachsen. Aber ich war sehr jüdisch sozialisiert. Von Anfang an wurde mir vermittelt: Du lebst in einer Gruppe, die klein ist, bewegst dich aber in einer viel größeren Gruppe, die keine gute Meinung von der kleineren Gruppe hat. Natürlich habe auch ich die dummen Sprüche oder Judenwitze auf dem Schulhof erlebt. Und ich habe vernommen, was Lehrer und Nachbarn sagten. Da realisierte ich: Die sagen mir nicht direkt, was sie denken, aber sie meinen mich. Das war schon früh in meinem Leben eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Ich wusste mit zehn oder zwölf Jahren, dass mich jederzeit ein Spruch treffen kann. So bin ich aufgewachsen. Später als Teenager und junger Erwachsener habe ich mich als jüdische Person geoutet und klar gesagt, ich bin Teil dieser Minderheit. Da ging es erst recht los: wie Israel mit den Palästinensern umgeht, Witze, Stereotypen – die ganze Palette wurde aufgefächert.
Und wie treten Sie heute antisemitischen Aussagen entgegen?
Indem ich versuche, Fragen zu stellen, die entlarvend sind. Zum Beispiel: Aha, woher weißt du das? Kannst du mir das beweisen? Die Leute sollen lernen, dass sie keine Fakten über Juden verbreiten, sondern Gerüchte. Abgesehen davon rede ich nur noch mit Menschen über Antisemitismus, von denen ich weiß, dass sie auch offen dafür sind, über ihre eigenen Anteile zu sprechen.
Nach dem Angriff vom 2. März haben Politiker wie Bundesrat Beat Jans oder Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch gesagt, Antisemitismus habe keinen Platz in unserer Gesellschaft. Diese Aussage haben Sie kritisiert. Warum?
Ich halte solche Aussagen für wohlfeil. Es sind reine Floskeln. Es reicht nicht zu sagen: Antisemitismus hat keinen Platz. Es braucht konkrete Maßnahmen.
Welche schlagen Sie vor? Was kann der Einzelne dagegen unternehmen?
Mein Aufruf ist: Redet mit euren Kindern darüber, was sie im Internet machen. Und beobachtet euch selbst dabei, was ihr im Internet macht. Es ist bequem zu behaupten, dass der junge Mann, der die Messerattacke begangen hat, sich von islamistischem Extremismus beeinflussen ließ. Das tat er sehr wohl. Aber wie kam es dazu? Es ist die Aufgabe von Schulen und Eltern, genau hinzusehen, was die Kids online anschauen. Diese Tat ist meiner Meinung nach kein Anlass, um Einwanderungsbestimmungen oder das Strafrecht bei Jugendlichen zu verschärfen. Es geht vielmehr darum, den Lehrplan zu adaptieren und am Familientisch über TikTok zu reden.
Haben Sie das Gefühl, die Schweiz hat etwas verpasst? Was fordern Sie?
Ich fordere eine intensive Schulung von Medienkompetenz. Jemand, der sich radikalisiert, tut dies nicht in einer Bibliothek, sondern online. Viele Leute, namentlich unsere Kinder, sind mit dieser neuen Technologie völlig sich selbst überlassen. Dieser Angriff auf den jüdischen Mann sollte für Schulen Anlass sein zu sagen, jetzt schauen wir genauer auf den Handygebrauch.
Sie haben einen zwölfjährigen Sohn. Wie sprechen Sie mit ihm über Antisemitismus?
Das Thema ist präsent, aber nicht omnipräsent. Er definiert sich als jüdisch, wenn auch nicht halachisch. Aber seit dem 7. Oktober identifiziert er sich stark mit der jüdischen Gemeinschaft. Der ganze Schmerz, den wir aktuell in und mit uns tragen, belastet auch ihn. Glücklicherweise hat er bisher in der Schule nichts Anfeindendes erlebt.
Sie sprechen den 7. Oktober an. Was hat er mit Ihnen gemacht?
Abgesehen davon, dass mich die aussichtslose Situation sehr betroffen macht, sehe ich zwei Völker, die vorher schon aufs Massivste traumatisiert waren und nun noch einmal ein schreckliches Trauma erleben. Das macht mich pessimistisch für die Zukunft. Mich beschäftigt auch dieser Zynismus: Dass sich die Welt nun von Israel abwendet, dass Juden antisemitisch attackiert werden, egal ob physisch oder verbal, das alles geht auf das Konto der Hamas – und kaum jemand sieht es. Die Hamas wusste, dass die militärische Antwort auf die Anschläge des 7. Oktober kommen würde, und nahm die Zehntausende von Toten in Kauf, als Quantité négligeable. Ich hätte mir gewünscht, dass Israel die Falle als solche erkennt und nicht dermaßen blindwütig hineintappt.
Mit dem Schweizer Schriftsteller sprach Nicole Dreyfus. Thomas Meyer wurde unter anderem durch seinen Bestseller »Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse« von 2012 und dessen Verfilmung mit Joel Basman international bekannt.