Interview

»Es ist seine Geschichte. Ich habe sie nur aufgeschrieben«

Noah Klieger und Takis Würger in Tel Aviv (März 2018) Foto: Jonas Opperskalski/ Penguin-Verlag

Herr Würger, nächste Woche erscheint Ihr neues Buch »Noah. Von einem, der überlebte«. Es erzählt die Geschichte des israelischen Journalisten Noah Klieger, der als junger Mann die Schoa überlebte und nach seiner Alija den Staat Israel mit aufbaute. Als Klieger im Dezember 2018 starb, haben Sie für diese Zeitung den Nachruf geschrieben. Wie lange kannten Sie ihn da schon?
Genau ein Jahr. Wir hatten uns kennengelernt, als Noah an einem deutschen Gymnasium einen Vortrag über die Schoa hielt. Wir hatten gemeinsame Freunde, daher wusste ich von dem Termin. Es gibt, wie wir alle wissen, kaum noch Gelegenheiten, Überlebende zu treffen, vor allem nicht in Deutschland. Ich hatte von Noahs außergewöhnlichem Lebensweg gelesen und wollte die Gelegenheit nutzen, ihn kennen zu lernen.

Wie hat er bei Ihrer ersten Begegnung auf Sie gewirkt?
Er litt seit Jahren unter Hüftarthrose, das wusste ich aus einem Porträt über ihn. Er konnte nur unter großen Schmerzen laufen, aber Noah weigerte sich, einen Rollstuhl zu benutzen. Die Schüler haben sich an diesem Tag erst nicht für ihn interessiert, als dieser zierliche, weißhaarige Mann die Aula betrat, die haben auf ihre Handys geschaut, gelacht. Aber es ging eine sonderbare Präsenz von Noah aus. Wenn er da war, wusste man, er ist da. Die Schüler wurden ruhig. Ich saß im Publikum neben den Schülern und wusste gleich, dieser Mann ist besonders.

Sie sind deutsch, zwei Meter groß, Boxer. Hat Klieger jemals erwähnt, wie Sie auf ihn gewirkt haben bei der ersten Begegnung?
Noah hat sich gern über mich lustig gemacht. Besonders lustig fand er meine Körpergröße und meinen Nachnamen. Er hat mich in E-Mails gern nur »Würger« genannt, ohne Anrede. Aber ich bin mir ziemlich sicher, bei unserer ersten Begegnung und bei jeder anderen auch, wussten wir beide, dass Noah der größere Mann ist.

Wie kam es dazu, dass Sie sein Leben aufgeschrieben haben?
Noah sprach an diesem Morgen in dem Gymnasium darüber, wie er für die Häftlingsstaffel von Auschwitz geboxt hat. Wir beide hatten uns vorher darüber per Mail ausgetauscht. Ich mag Boxen. Noah hasste es. Aber er sprach darüber an diesem Tag. Wie er sich freiwillig für die Boxstaffel meldete, ohne jemals im Ring gestanden zu haben und wie ihm das sein Leben rettete, weil die Boxer in Auschwitz eine extra Suppe bekamen. Nach dem Vortrag saßen Noah und ich zusammen. Ich habe ihn gefragt, wie wir an Auschwitz erinnern sollen, wenn er und die anderen Überlebenden uns nicht mehr davon erzählen können. Er hat gesagt, er wisse es nicht. Ich habe gesagt, jemand müsse ein Buch über ihn schreiben. Er hat gesagt, dann schreib es. Daraus wurde unser Buch.

Sie sagen unser Buch.
Ja. Es ist seine Geschichte, ich habe sie nur aufgeschrieben.

Haben Sie eine Antwort darauf, warum ausgerechnet Sie sein Biograf werden sollten?
Noah wollte, dass sein Leben erinnert wird. Ich vermutete, es war ihm mit über 90 Jahren nicht so wichtig, wer es aufschreibt. Er kannte meine Texte und meine Bücher, aber das war nicht ausschlaggebend, vermute ich. Ich denke, die einfache Antwort ist: Er hat mir gesagt, schreib mein Leben auf, weil sonst niemand da war, der es tun wollte oder es angeboten hat.

Das Boxen ist wie bereits erwähnt etwas, das Sie und Noah Klieger verbunden hat. Er verdankte dem Boxen sein Überleben – obwohl er vor seiner Deportation nach Auschwitz nie zuvor geboxt hatte …
Als Noah nach Auschwitz ankam, als Jugendlicher, war es Januar und eiskalt. Die Deutschen sperrten die Häftlinge nackt in einen Hangar ohne Dach. 24 Stunden lang. Als die Deutschen die Türen öffneten, war die Hälfte der Häftlinge erfroren. SS-Männer betraten den Hangar und einer fragte, wer von den Männern Boxer sei. Noah war kein Boxer, aber er hob den Arm. So wurde er Mitglied in der Boxstaffel von Auschwitz. Er musste zur Belustigung der Deutschen kämpfen. Er verlor jeden Kampf. Ein Gegner brach ihm die Nase. Aber Noah bekam eine extra Kelle Suppe und sagte mir später, er sei sich sicher, dadurch überlebt zu haben.

Sie haben Klieger für das Buch in Tel Aviv interviewt, bei ihm Zuhause. Über welchen Zeitraum trafen Sie ihn?
Mehrere Monate lang. Ich kannte den Öffnungscode für die Haustür und durfte kommen und gehen, wann ich wollte. Und ich war täglich bei ihm. Bis auf samstags.

Wie haben Sie ihn während der Gespräche erlebt?
Zu Noah Klieger konnte man nicht mit einem vorher notierten Fragenkatalog gehen. Er hat eigentlich nur darüber gesprochen, worüber er gerade sprechen wollte. Das heißt, wir haben uns erstmal viel über Alltäglichkeiten unterhalten, über Fußball, Angela Merkel, das beste Schakschuka in Tel Aviv, die Deutschen. Ich kam natürlich, ganz der brave Reporter, mit meinem Fragenkatalog, aber Noah hat das nicht besonders interessiert. Den ersten Monat haben er und ich vor allem Biathlon im Fernsehen geguckt, das liebte er.

Wie haben Sie trotzdem die Antworten bekommen, die Sie brauchten?
Noah hat irgendwann, nach vielleicht einem Monat, zu mir gesagt, dass nie vorher ein Reporter so lange geblieben wäre wie ich. Das gefiel ihm. Und das änderte unser Verhältnis. Noah wollte unbedingt, dass die Menschen sich an ihn erinnern. Er wollte unbedingt, dass jemand sein Leben festhält. Er hat mich immer wieder gefragt »Schreibst du wirklich dieses Buch?« Es wurde ihm ein Anliegen. Und ich habe begriffen, dass Noahs innerer Fragenkatalog besser war als meiner. In gewisser Weise brauchte es auch diese Zeit des Zusammenseins, um das notwendige Vertrauen für das Buchprojekt zu schaffen.

Inwiefern?
Wir haben viel miteinander unternommen. Und dann erst später über sein Leben gesprochen. Was ich besonders beeindruckend fand: Mit Noah in Israel unterwegs zu sein war ein wenig so, wie in der Gefolgschaft eines Königs reisen zu dürfen. Er kannte alle. Jeden Präsidenten seit 1948, jeden Restaurantbesitzer, manchmal kam es mir vor, als kenne er jeden Taxifahrer. Wir haben viel Zeit in Cafés verbracht, Wodka getrunken, bis nachts am Hafenrestaurants gegessen, von denen er die Besitzer kannte. Wenn wir in ein Restaurant gekommen sind, bekam Noah immer den besten Tisch. Er hat auch ziemlich gern geflirtet.

Wie viel Nähe ist bei so einem Buchprojekt notwendig? Und kann zu viel Nähe einem ehrlichen Blick abträglich ist?
Dieses Buch ist kein journalistischer Text und kein Geschichtsbuch. Es sind Noah Kliegers Lebenserinnerungen. Wir haben die Manuskriptfassung gemeinsam erarbeitet und Noah hat sie vor seinem Tod noch komplett lesen können. Er fand den Text gut so. Noah hat mich einen Freund genannt. Wir haben zusammen gelacht und geweint, über die Liebe gesprochen und über den Tod. Ich glaube, erst diese Nähe macht dieses Buch ehrlich.

Von Marcel Reich-Ranicki ist der Satz überliefert, dass seine Erinnerungen an die Schoa umso näher kamen, je älter er wurde. Wie war das bei Klieger?
Noah hat nach der Schoa – wie so viele Zeitzeugen – lange geschwiegen. Später hat er es als Auftrag verstanden, davon zu erzählen. Ich weiß nicht, ob er es gern gemacht hat, aber er hat es gut gemacht. Und einmal hat er mir erzählt, dass dieser Auftrag, den er sich selbst gegeben hat, nämlich von seinem Schicksal zu erzählen, dass ihn das am Leben hält.

Es gab angeblich Überlegungen, dass dieses Buch, »Noah«, vor Ihrem Roman »Stella« veröffentlicht werden sollte, der von Teilen des deutschen Feuilletons verrissen wurde. Glauben Sie, dass die Kritiker nach der hitzig geführten Debatte um »Stella« überhaupt einen objektiven Blick auf dieses Buch werfen können – oder wollen?
Ich weiß es nicht. Und ich kann es auch nicht beeinflussen. Was ich aber weiß: Keine noch so hitzig geführte Debatte um »Stella« hätte mich daran hindern können, jetzt dieses Buch zu veröffentlichen.

Einige Literaturkritiker warfen Ihnen damals vor, die Schoa als Hintergrund für eine kitschige Liebesgeschichte missbraucht zu haben. Haben Sie Sorge, dass Ihr neues Buch möglicherweise erneut falsch verstanden werden könnte?
Ich habe Noah und seiner Familie versprochen, dass dieses Buch dabei helfen wird, dass sich die Menschen an ihn erinnern. Das ist mir wichtig, wenn es um die Rezeption geht, und ich hoffe, so wird es verstanden werden.

Bei »Stella« wurde Ihnen auch vorgeworfen, Fiktion und Wirklichkeit im Leben der historischen Stella Goldschlag zu vermischen. Wie haben Sie bei »Noah« gearbeitet? Ist die Geschichte deckungsgleich mit dem, was Noah Klieger in seinem Leben auch tatsächlich erlebt hat?
Sie ist deckungsgleich mit dem, was Noah Klieger mir erzählt hat. Dieses Buch ist von Historikern auf seine Richtigkeit geprüft worden. Wir haben versucht, für alles zwei Quellen zu finden. Aber der einzige, der noch von vielen schrecklichen Erlebnissen von Noah Klieger im Konzentrationslager berichten konnte, war Noah Klieger. Dies ist Noahs Buch. Er war dabei. Er hat mir sein Leben so erzählt, wie es jetzt gedruckt steht. Manche Details aus Noahs Erzählungen werfen Fragen auf. Zum Beispiel: Wie will man von einem Überlebenden von Auschwitz verlangen, dass er sich an zeitliche Zusammenhänge korrekt erinnert? Dazu hat sich insbesondere Sharon Kangisser Cohen in einem Nachwort geäußert.

Wie haben Sie ganz konkret gearbeitet: Alles aufgenommen, abgetippt und in Archiven und von Historikern noch einmal gegenchecken lassen?
Ich habe alle Gespräche aufgenommen. Transkribieren lassen. Dutzende Bücher gelesen. Habe mit Historikern gesprochen, vor, während, nach den Interviews. Bin zu den Schauplätzen von Noahs Leben gereist: Straßburg, Brüssel, Mechelen, Oświęcim, Südfrankreich, Tel Aviv. Das fertige Manuskript haben wir von unabhängigen Faktencheckern prüfen und Fehler korrigieren lassen.

Ihr Stil in dem Buch ist ebenso reduziert wie rein sachlich. Auf stilistische Experimente und Ausschmückungen wie etwa in »Der Club« oder in Texten für den »Spiegel« haben Sie komplett verzichtet. Haben Sie sich für diese Form entschieden oder umgekehrt?
Noah Klieger wollte keine Ausschmückungen seiner Geschichte. Er hat mir gesagt, schreib es auf, wie ich es dir erzähle, denn so war es. Der Stil eines Autors bleibt natürlich immer erkennbar, aber ich habe versucht, das zu tun, was Noah mir gesagt hat.

Das heißt, Sie haben sich seinem Leben eher als Biograf denn als Schriftsteller genähert?
Ich habe mich Noahs Lebenserinnerungen vor allem als Mensch genähert. Noahs Geschichte hat mich beeindruckt, und ich habe sie aufgeschrieben. Noah hatte vorher einzelne Erinnerungen auch selbst aufgeschrieben. Das Buch heißt »Zwölf Brötchen zum Frühstück«, es hat leider kaum Aufmerksamkeit bekommen und wird nicht mehr gedruckt. In diesem Buch jetzt treffen zwei Generationen aufeinander, es ist im Gespräch zwischen uns beiden entstanden. Ich hoffe, dass die Perspektive von jemandem aus der jüngeren Generation ein ganz eigenes Buch ermöglicht hat, das auch eine jüngere Generation erreichen kann.

Vor Kurzem haben wir den 27. Januar begangen. Es leben nur noch wenige Holocaust-Überlebende. Die Zeitzeugenschaft geht über auf jüngere Generationen. Noah Klieger sprach oft vor Schulklassen, mit jungen Schülern. War er pessimistisch oder optimistisch, dass künftig ein würdiges Erinnern an die Schoa gelingen kann?
Ein Charakterzug, den ich sehr an Noah Klieger bewundert habe und den ich seit seinem Tod vermisse, war seine Lebensfreude, auch mit Blick auf das Thema Ihrer Frage. Ich hoffe sehr, dass Noah recht behalten wird.

Takis Würger: »Noah. Von einem, der überlebte«. Penguin, München 2021, 188 S., 20 €

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