Yael Van der Wouden

»Es ist doch eine Liebesgeschichte!«

»Ich bin queer, ich bin jüdisch, und ich schreibe auch darüber«: Yael van der Wouden ist Tochter einer Israelin und eines Niederländers. Foto: Roosmarijn Broersen

Yael Van der Wouden

»Es ist doch eine Liebesgeschichte!«

Die Schriftstellerin über Sexszenen, queeres Begehren und ihren Debütroman, der für den Booker Prize nominiert war

von Ayala Goldmann  26.03.2025 16:08 Uhr

Frau van der Wouden, in Ihrem ersten Roman spielt neben zwei Frauen ein altes Haus die Hauptrolle. Woher kommt Ihre »Besessenheit« für Häuser, wie Sie selbst es nennen?
Der erste Roman, den ich selbst als Kind gelesen habe, heißt »The Secret Garden«. Es geht um ein junges Mädchen, das alleine in ein riesiges, fremdes Haus zieht. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich dieses Buch zu lesen begann, als wir aus Israel in die Niederlande umzogen – da war ich elf Jahre alt. Wir haben zuerst drei Monate bei meinen Großeltern gewohnt. Für mich war das eine magische Zeit, es war ein Haus mitten im Wald, ich fühlte mich dort sehr sicher. Vielleicht hat all das zusammen bei mir die Faszination für die Idee hervorgerufen, fremd im Haus eines anderen zu sein.

Die Handlung ist unter anderem von Daphne du Mauriers Thriller »Rebecca« beeinflusst – einem Buch, das erst am Schluss den wahren Charakter einer Frau aufdeckt …
… ein anderes Vorbild war die Kurzgeschichte »The Yellow Wallpaper« von Charlotte Perkins Gilman. Es geht um eine Frau, die einen Raum betritt, zu dem sie ihre Zugehörigkeit erst entwickeln muss. Das bringt sie fast um den Verstand, denn ihre Wahrnehmungen werden offensichtlich von einer äußeren Kraft bestimmt. Für mich kann das auch als sehr queer gelesen werden. Zwei Frauen sind in einen Kampf aneinandergefesselt, und dann gibt es den Mann, der eigentlich nicht dazugehört. Ich habe mich gefragt, ob es nicht Spaß machen würde, die gleiche Erzählstruktur zu verwenden: Eine Frau betritt ein Haus, eine andere verliert es allmählich und fragt sich: Wer stiehlt meine Sachen? Und am Ende ist es eine Liebesgeschichte, die ich immer in andere Erzählungen hineingelesen habe, obwohl sie nicht dort stand.

Als Leserin war ich zuerst völlig auf der Seite von Isabel. Sie verteidigt ihr Haus auf dem Land gegen die übergriffige Eva – die Freundin von Isabels Bruder, die dort 1961 einzieht und sich benimmt, als gehöre alles ihr. Dann entwickelt sich die Liebesbeziehung, und nichts ist, wie es anfangs schien. Wie schaffen Sie es, dass man so nah an Ihren Figuren bleibt?
Die Antwort ist wahrscheinlich nicht sehr aufregend, aber es ist sehr viel Vorarbeit. Im April kam die Geschichte zu mir, im September begann ich zu schreiben. Es war ein großes Puzzle, zuerst habe ich die großen Szenen entwickelt, in einem Notizbuch festgehalten und in einer Timeline sortiert. Und ich hatte kleine Karten, die ich auf den Flur gelegt und hin- und hergeschoben habe. Denn wenn ich schreibe, will ich mich nicht mehr mit der Handlung beschäftigen, sondern alles in die Sprache legen, in ihren Rhythmus. Dann ist es wie ein Film, der vor meinen Augen abläuft. Um das zu erreichen, muss alles gut vorbereitet sein. Wie bei einem Rezept: Zuerst hackt man die Zwiebeln und die Möhren. Und wenn man anfängt zu kochen, muss man alles nur noch in die Pfanne legen und umrühren.

Die zentralen Themen Ihrer Arbeit seien jüdische Identität und Queerness, schreibt die Deutsche Presse-Agentur über Sie. Das klingt wie ein Label. Finden Sie sich darin wieder?
Ich bin queer, ich bin jüdisch, und ich schreibe auch darüber. Die Labels sind beide korrekt. Das ist natürlich nicht alles. Aber manchmal wollen Leute so etwas wissen, bevor sie sich mit einem Buch beschäftigen, und das ist okay für mich. Es geht mir natürlich auch um Zugehörigkeit und um queeres Begehren. Und mein Buch ist auch ein Thriller, der sich mit einem Geheimnis beschäftigt.

Im Abspann danken Sie Ihrer Familie, weil sie »respektvoll« genug war, Sie nicht auf Kapitel zehn anzusprechen – das sind die Sexszenen, die zum Teil sehr explizit geschrieben sind. Ich hoffe, es ist nicht respektlos, wenn ich Sie frage, was Ihnen dabei wichtig war?
Für mich ist das gar keine Frage, es ist doch eine Liebesgeschichte! Klar, es geht auch um interpersonelle Beziehungen, wie wir uns anderen gegenüber verhalten, ob wir uns erlauben, brutal ehrlich zu sein und gleichzeitig Geheimnisse für uns zu behalten. Aber bei Sexszenen geht es darum, was ein Mensch vom anderen erwartet. Isabel zum Beispiel ist im Alltag völlig kontrolliert. Jedes Mal, wenn sie ein Gefühl spürt, schaltet sie es ab oder zwickt sich selbst in den Arm. Ich wollte ihr einen Raum geben, wo sie sich physisch aufgeben kann. Sie macht alles hundertfünfzigprozentig. Es hat also Sinn, sie das auch in der Liebe machen zu lassen. Als Autorin entwickele ich einen Charakter langsam und sorgfältig, um ihn dann in einer Liebesszene zu vergrößern. Ich selbst bin immer ein bisschen enttäuscht davon, wenn es in einem Buch eine große Liebesgeschichte gibt und die Autoren davor zurückschrecken, die Körperlichkeit daran zu beschreiben. Dieses Buch habe ich erst einmal für mich geschrieben. Es gab kein Publikum, keine Agenten, keinen Verlag. Es gab nur mich – im Zug oder in meinem kleinen Haus. Also habe ich mir das gegeben, was ich in diesem Moment selbst gerne lesen wollte.

Ihr Debütroman »In Ihrem Haus« war 2024 für den Booker Prize nominiert. Eine Überraschung?
Mein Gott, natürlich! Keiner hat auf diese Geschichte gewartet. Ich hatte vorher Essays und Kurzgeschichten geschrieben, aber ich war so gut wie unsichtbar. Dann stand ich auf einmal unter dem Vergrößerungsglas des Booker Prize. Und jetzt werde ich für immer im Schatten meines Debütromans stehen, das prophezeie ich mir selbst.

Sie unterrichten Kreatives Schreiben an der Universität Utrecht. Was bringen Sie Ihren Studierenden bei?
Ich glaube, man muss eine längere Zeit darüber nachdenken, bevor man Lyrik schreibt oder ein kompliziertes Kapitel Prosa. Man muss sich selbst klarmachen, was genau man tun will. Die Wahrheit ist aber auch, dass manche meiner Studierenden fantastische Werke schreiben, wenn sie einfach ihrer Inspiration folgen.

Mit der Schriftstellerin sprach Ayala Goldmann.

Yael van der Wouden: »In ihrem Haus«, Aus dem Englischen von Stefanie Ochel, Gutkind, Berlin 2025, 320 S., 24 €

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