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Ágnes Heller

»Es ist das Rätsel meines Lebens«

Die Philosophin über ihre Kindheit, die Gefühlswelt von Judenhassern und Antisemitismus in Ungarn

von Louis Lewitan  29.04.2013 18:02 Uhr

»Heute werde ich in Ungarn als Jüdin beschimpft, zum ersten Mal in meinem Leben«: Ágnes Heller Foto: ddp

Die Philosophin über ihre Kindheit, die Gefühlswelt von Judenhassern und Antisemitismus in Ungarn

von Louis Lewitan  29.04.2013 18:02 Uhr

Frau Heller, ich muss mich entschuldigen, die Unterlagen für das Interview sind mir im Seminarraum abhandengekommen.
(fängt an zu singen): »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin, Stock ist hin, Rock ist hin, alles ist hin. Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« Das ist ein Lied meiner Großmutter.

Sie sprechen das leidvolle Thema Verlust an. Was fällt Ihnen zu dem Begriff ein?
Wenn ich über Verlust nachdenke, assoziiere ich selbstverständlich den Verlust meines Vaters, meiner zwei Cousinen, der Verlust meiner Kindheit. Das ist es, was ich über Verlust denke, wenn ich assoziieren muss.

Was können Sie aus diesem eigenen Verlust ableiten?
Vom eigenen Verlust kann man nichts ableiten. Aber natürlich war für mich meine Kindheits- und Jugenderfahrung im Holocaust eines der grundlegenden Themen – besser eher Rätsel – meines philosophischen Lebens. Dieses Rätsel wollte ich lösen. Aber man kann es nicht lösen. Auf die Frage, wie Menschen so etwas tun können, wie es möglich war, kann man nicht wirklich eine Antwort finden. Mindestens aber kann man darüber reflektieren, auch wenn man wahrscheinlich weiß, dass man keine Lösung finden wird.

Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen, als Sie über diese Frage reflektiert haben?
Ich habe keine Schlüsse gefunden, weil es keine Schlüsse gibt. Es gibt keine einfache Kausalität in der Welt. Sehr viele Sachen, die passiert sind, sind einfach kontingent, zufällig – und zufällige Sachen kann man nur dann erklären, wenn die Zufälligkeit einen Grund hat. Aber wenn kein einziger Grund existiert?

Ich komme aus Frankreich. In der französischen Philosophie ist das Absurde ein zentraler Begriff. Hilft uns das weiter?
Camus hat dazu einige Gedanken in Essays erörtert. Aber was er absurd nannte, ist nicht, was ich irrational nenne. Wenn wir vom Holocaust reden, geht es um ein System – um eine systematische Maschinerie der Zerstörung und des Mordes. Da muss man die Frage stellen, ob das eine Folge des modernen Denkens sein könnte. Eine Art von Denken, in der man in allem Probleme sieht, die zu lösen sind – »Endlösung der Judenfrage«. Es gibt eine Judenfrage, das setzen wir voraus, und diese Frage muss man lösen. Was ist die Lösung dieser Judenfrage? Die Extermination aller Juden. Das ist eine Lösung, da hinterher kein Jude mehr existiert. Das ist ein technologisches Denken, in diesem Sinn ist es modernes Denken. Aber dieses Denken erklärt nicht, warum man alle Juden töten wollte. Man hätte sie ja auch nach Madagaskar verschicken können. Warum die »Lösung der Judenfrage« auf diese Weise passierte, auf diese Frage gibt es keine Antwort.

Sie haben über die Theorie der Gefühle geschrieben. Als Psychologe stellt sich für mich die Frage, ob man Angst vor den Juden hat, weil sie angeblich übermächtig sind. Oder beneidet man sie um ihre angebliche Macht? Je nachdem glaubt man, berechtigte Gefühle zu haben, die einen veranlassen, gegen die Juden vorzugehen.
Das ist nicht dasselbe. Gegen jemanden vorzugehen und alle zu töten ist nicht identisch. Gegen Juden vorzugehen bedeutet: Man kann ihre Häuser konfiszieren, man kann sie aus beruflichen Stellungen rausschmeißen, man kann gesetzliche Regelungen treffen, was ja auch passierte. Aber sie auszurotten, das ist ein Schritt weiter, ein großer Schritt, ein absurder Schritt. Zwischen Konfiskation und Massenmord ist doch ein Abgrund. Und wenn man über diesen Abgrund springt, nenne ich das auch irrational.

Glauben Sie, dass eine solche Irrationalität gegenüber Juden sich in Europa wiederholen könnte?
Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Ich kenne beide. Die eine Antwort lautet: Weil Auschwitz geschehen ist, kann es nicht noch einmal passieren. Jetzt wissen wir alle, was man damals gemacht hat, und wir wollen das nicht wiederholen. Die andere Meinung ist, dass es jederzeit wieder möglich ist, da wir die Vorstellung davon haben. Welche der beiden Antworten richtig ist, kann ich nicht sagen. Ich bin keine Prophetin.

Noch einmal zu Ihrer Theorie der Gefühle. Sie unterscheiden zwischen angeborenen Affekten und erworbenen, erlernten Gefühlen.
Affekte sind angeboren, in der ganzen Welt in allen Kulturen, die Leute haben alle dieselben Affekte wie Furcht, Scham, Ekel, Erotik und Zorn. Das sind Physiken, die haben eine typische Manifestation am ganzen Leibe. Bei Scham zum Beispiel werden wir rot. Eine andere Sache sind die Gelegenheiten, die diese Affekte auslösen. Wir sind von ganz anderen Dingen beschämt als Menschen vor 200 oder 300 Jahren, Frauen von anderem als Männer, Kinder anders als Erwachsene. Das heißt, die Mechanismen, die Träger der Reaktionen, sind geschichtlich differenziert.

Dann helfen Sie mir, mich der Gefühlswelt von Judenhassern anzunähern. Ist der Antisemitismus ein erworbenes Gefühl?
Alle Gefühle sind erworben, weil sie nicht einfach Affekte sind. Furcht ist ein einfacher Affekt. Aber wovor und wie wir uns fürchten, das ist erworben. Einige fürchten sich vor Prüfungen, andere fürchten sich vor Wölfen. Auch Antisemiten haben ihre Gefühle erworben. Wovor ich mich fürchte, wen ich hasse, gegen wen ich Zorn empfinde, das ist immer erlernt.

Glauben Sie, dass man die Kognitionen, also die Denkweisen, eines Antisemiten umstrukturieren kann?
Das ist eine sehr schwierige Frage, denn kein Antisemit ist wie der andere. Antisemitismus hat sehr viele Varianten und drei, vielleicht vier verschiedene Stufen. Erstens die verbale, das Vorurteil: Alle Juden sind reich, so wie andere sagen, die Schwarzen sind faul, die Italiener sexuell überaktiv, die Franzosen arrogant. Die zweite Stufe ist Diskriminierung: Ich nehme keine Juden auf in meinem Hotel; wenn ich einen Namen wie Rosenzweig höre, sage ich, tut mir leid, es ist kein Zimmer frei. Das ist persönliche Diskriminierung, die zweite Phase. Die dritte Phase ist die politische Diskriminierung, wenn die Politik, der Staat, antijüdische Gesetze erlässt, Zugangsbeschränkungen für Juden an den Universitäten zum Beispiel. Die nächste Stufe wäre Isolation. Wenn Menschen in ein Ghetto gesperrt werden. Und die letzte ist dann Mord. Man will Menschen vernichten. Das kann ein Pogrom sein, das kann die »Endlösung« sein, das kann viele Formen annehmen.

Ich möchte auf Ihre eigene Geschichte zurückkommen. Haben Sie als junges Mädchen in Ungarn Antisemitismus erfahren?
Ungarn war sehr antisemitisch. Aber ich selbst habe keine antisemitischen Erfahrungen gemacht. Ich war im jüdischen Gymnasium, ich fuhr jeden Tag mit der Straßenbahn zur Schule. Auf meinem Namensschild stand »Israelitische Mädchenschule«. Niemand hat mich antisemitisch angesprochen.

Wann haben Sie zum ersten Mal am eigenen Leib Antisemitismus in Form von Diskriminierung erfahren?
Natürlich habe ich Diskriminierung gefühlt. Ich war den antisemitischen Institutionen ausgesetzt, Regelungen, Gesetzen. Ich konnte nicht auf eine staatliche Schule, deswegen ging ich in ein jüdisches Gymnasium. Mein Vater sagte: Du willst zur Universität gehen, aber in einer ungarischen Universität wird man keine Jüdinnen aufnehmen. Das ist Diskriminierung. Aber dass jemand gesagt hätte, du hässliche Jüdin, das habe ich nicht erfahren. Das erfahre ich jetzt. Jetzt ist der Antisemitismus so, dass ich persönlich als Jüdin beschimpft werde, zum ersten Mal in meinem Leben.

Wie äußert sich das?
Am Telefon zum Beispiel: Wir wissen, wo du lebst, Jüdin, wir können dich töten. Täglich höre ich das. Oder E-Mails, in denen steht, es ist ein Fehler gewesen, die Deportationen zu stoppen, denn du bist immer noch hier.

Haben Sie Angst, wenn Sie solche Anrufe oder Mails bekommen?
Warum soll ich Angst haben? Was kann mir passieren?

Erleben Sie das nicht als Bedrohung, die physisch werden könnte?
Nein, überhaupt nicht. Natürlich gibt es in Ungarn Antisemiten in großer Zahl, aber aktive Antisemiten, die so weit gehen würden, gibt es sehr wenige. Verbale Aggression ist sehr weit von körperlicher Aggression entfernt.

Kann es sein, dass Sie nach all dem, was Sie in Zeiten der Schoa und unter Stalin erlebt haben, keine Angst mehr haben?
Man tötete meine Angst 1944. Ich bin am Leben geblieben, als die Juden am Donauufer erschossen und ihre Leichen in den Fluss geworfen wurden. Wovor kann ich noch Angst haben?

Wenn Sie zurückdenken an die Zeiten, die Sie gerade beschrieben haben, können Sie sagen, Sie sind am Leben geblieben, weil es der Zufall so wollte?
Ja, natürlich. Alle, die am Leben geblieben sind in Ungarn, sind das zufällig. Alle, die wir heute leben, sind zufällig am Leben geblieben. Es war Schicksal, dass wir alle getötet werden sollten. Dass wir am Leben geblieben sind, war der absolute Zufall.

Sie sind 1929 geboren. Was ist das Geheimnis Ihrer Vitalität und Ihrer unbändigen Lebenskraft?
Fragen Sie einen Genetiker. (lacht)

Kann ich auch einen Psychologen fragen?
(lacht herzhaft) Einen Psychologen sicher nicht.

Ágnes Heller kam 1929 in Budapest zur Welt. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet, sie selbst konnte mit ihrer Mutter der Schoa knapp entkommen. Heller studierte Philosophie bei Georg Lukács, dessen Assistentin sie wurde. In den 60er-Jahren gehörte sie zu den Köpfen der kritischen »Budapester Schule«, geriet in Konflikt mit den regierenden Kommunisten und musste 1977 emigrieren. Sie lehrte in Australien und in den USA. Für ihr Werk wurde Heller unter anderem mit der Goethe-Medaille und dem Bremer Hannah-Arendt-Preis geehrt. Sie lehrt und forscht heute wieder in Budapest.

Das Gespräch führte Louis Lewitan am Rand eines Seminars der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München.

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