Die Berlinale quält sich dieses Jahr mit einem besonders schweren Fall von Pre-Festival-Syndrom. Angefangen mit dem Krisenmanagement im Fall der ein- und ausgeladenen AfD-Abgeordneten bis zur generell aufgeheizten Stimmung angesichts des Gaza-Krieges, die zunehmend verstörende Blüten treibt. Bleibt die Frage, was einen auf der Berlinale selbst erwartet. Nun ja, zumindest guter Wille.
Denn auch wenn kein israelischer Film im Wettbewerb zu finden ist, geht die Festivalleitung mit dem hehren Anspruch in ihr letztes Berlinale-Jahr, »dass wir durch die Kraft von Filmen und offenen Diskussionen dazu beitragen können, Empathie, Bewusstsein und Verständigung zu fördern – auch und gerade in schmerzhaften Zeiten wie diesen«, verkündeten Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian im Januar. Neben Kino gibt es deshalb auch ein besonderes Panel und ein »Tiny House«, wo Fragen zum Nahost-Konflikt beantwortet werden. Nun aber zu den Filmen.
Die einzige israelische Produktion läuft im Berlinale Special: Amos Gitais Shikun. Inspiriert von Eugène Ionescos absurdem Klassiker Die Nashörner porträtiert er die Bewohner eines typisch israelischen Wohnblocks (Shikun), Menschen aus verschiedenen Schichten, Generationen und verschiedener Herkunft. Angesichts aufziehender Intoleranz und totalitärem Denken verwandeln sich einige in Nashörner, während andere sich dagegen wehren. Wie im richtigen Leben eben.
Starglitzer mit Adam Sandler und Stephen Fry
Für Starglitzer sorgen »Spaceman« und »Treasure«. Der erste ist ein Sci-Fi-Vehikel für Adam Sandlers Bemühungen, sich weiterhin als dramatischer Schauspieler zu etablieren. Diesmal im All, wo er als Astronaut Jakub am Rande des Sonnensystems herausfinden will, was Liebe ist. Und ja, Aliens gibt es auch.
»Treasure« wiederum bringt den wunderbaren Stephen Fry und die kauzige Lena Dunham nach Berlin, die in Julia von Heinz’ (Hannas Reise, Eldorado KaDeWe) neuem Film Vater und Tochter spielen, die Anfang der 90er-Jahre nach Polen reisen. Die Tochter will die Heimat des Vaters sehen, der hier nur knapp die Schoa überlebt hat. Ruth und Edek aus New York fahren von Warschau nach Łódz und von Krakau ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Ruth sucht Wurzeln, über die der Vater nicht redet. Denn Edek hat damals entschieden, mit der Vergangenheit abzuschließen. Weil der charmante Clown aber auf seine Tochter aufpassen will, kommt er mit. Das bringt alles hervor von verrückt lustig bis herzversteinernd traurig. Vorlage ist Lily Bretts Roman Zu viele Männer.
Kauzig ist auch Jesse Eisenberg unterwegs, der eine Art Bigfoot spielt. »Ganzkörperbehaarung, ich grunze, aber kein Text, ich freue mich sehr darauf«, soll er vor Drehbeginn der skurrilen Komödie Sasquatch Sunset gesagt haben.
Kein israelischer Film im Wettbewerb,
aber hehre Ansprüche
Apropos Körperbehaarung: Endlich gibt es einen Film über die Karriere von Wunderfrau Peaches aka Merrill Nisker, die zusammen mit ihren WG-Kollegen Feist und Gonzales einst das Musikbusiness umkrempelte und Feminismus lebt, ohne ihn benennen zu müssen. Peaches, der 2000 mit dem Album Teaches of Peaches der internationale Durchbruch gelang, hat geschafft, was Madonna sich nicht traut: stolz zu altern. Dabei kann man im nach dem Album benannten Film zusehen. Pures Empowerment.
Auch nah dran am Titel ist der Film The wrong Movie von der israelischen Regisseurin Keren Cytter. Zerbrechliche Influencer, Menschen, die zu Drohnen werden, und eine Sprache wie vorgelesene Postings sind eher schwer verdauliches Kino. Da ist Nathan Silvers Between the Temples deutlich liebevoller. Ein junger Kantor kann nach dem Tod seiner Frau nicht mehr singen. Wes-Anderson-Muse Jason Schwartzman spielt den Verlorenen, dessen einziger Job es bleibt, Kinder auf Bar- und Batmizwa vorzubereiten. Bis seine alte Ex-Musiklehrerin auch Tora lernen will. Plötzlich findet der Kantor sich wieder, wenn auch anders als erwartet, und das alles zum wunderbaren Arik-Einstein-Soundtrack.
Beeindruckender Hauptdarsteller
So stark wie klein ist der Kurzfilm Obraza in der Sektion Generation 14plus über einen jüdischen Teenager in der Ukraine der Sowjetzeit, der einfach nur weg will aus dem lähmend kalten, menschenverachtenden Grau der sozialistischen Armut. Glücklich ist er nur, wenn er mit seiner Punkband spielt, doch im nächsten Augenblick wird er schon verprügelt, weil er Jude ist. Die geballte Wut und die Rebellion sprengen fast die Leinwand. Von Hauptdarsteller Vladyslav Baliuk werden wir hoffentlich noch viel sehen.
Um Wut geht es auch in No other Land, eine Doku über einen jungen palästinensischen Aktivisten aus Masafer Yatta im Westjordanland, der die Siedlungspolitik der israelischen Regierung bekämpft. Zum einen geht es in dem Film eines israelisch-palästinensischen Kollektivs um Freiheitskampf, viel mehr aber auch darum, wie tief sich der Nahostkonflikt in Familien gefressen hat. Der Film wird sicher auch selbst für Wut und Aufregung sorgen.
Während Andrei Cohns Holy Week, der aussieht wie ein Bruegel-Gemälde und ebenso gewaltsam ist, wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit bekommen wird, obwohl er sie verdient hätte. Rumänien, Ende des 19. Jahrhunderts. Ein jüdisches Ehepaar fühlt sich sicher in seinem Dorf, wo es den Gasthof betreibt, wie Gleiche unter Gleichen, während der Judenhass wächst und gedeiht und zwischen Pessach und Ostern vollends eskaliert. Ganz großes, schmerzreiches Kino.
Filmgeschichte mit Martin Scorsese
Bessere Laune macht Made in England, eine Doku über den Hollywood-Drehbuchautor Emeric Pressburger und den Regisseur Michael Powell, die als Duo Kinogeschichte geschrieben haben mit Filmen wie Die roten Schuhe, Hoffmanns Erzählungen und Die schwarze Narzisse. Erzähler ist niemand Geringeres als Martin Scorsese, der Pressburger und Powell seine frühe Kinoerziehung verdankt. »Manche Filme guckt man einfach immer wieder, man verbringt sein Leben mit ihnen.«
Entsprechend bietet auch die Berlinale »altes Kino«: Natürlich wieder mit dabei der grandiose Ernst Lubitsch, aber auch Thomas Braschs Engel aus Eisen, Jeanine Meerapfels Im Land meiner Eltern und schließlich das Kleinod Diese Tage in Terezín von Sibylle Schönemann, der das kurze Leben des Prager Kabarettisten Karel Švenk nachzeichnet, der als »Chaplin von Theresienstadt« traurige Bekanntheit erlangte, bevor die Nazis ihn zwei Wochen vor Kriegsende ermordeten. 50 Jahre später suchen die Regisseurin, die Autorin Lena Makarova und die israelische Musikerin Victoria Hanna nach dem, was von einem Menschen bleibt. In diesen fiebrigen Zeiten sollten wir das vielleicht alle mal tun. Danke, Berlinale, für die Erinnerung.