Frau Funk, im Titel Ihres Romans »Zwischen du und ich« klingt Martin Bubers dialogisches Denken an. War das Absicht?
Das war es. Mir ging es darum, der Frage nachzugehen, wie wir den anderen als Anderen, als Du sehen können – in einer richtigen Begegnung ohne Vergegnung.
Nike, eine Berliner Jüdin, trifft in Tel Aviv den Israeli Noam – beide sind Enkel von Schoa-Überlebenden. Was macht eine Begegnung zwischen beiden möglich?
Der Leser weiß alles über die beiden, kennt ihr Geheimnis. Aber Noam und Nike erfahren bis zum Ende nichts voneinander. Beide wissen intuitiv um das Geheimnis des anderen, aber quetschen einander nicht aus – und sind auch sehr froh darüber, dass es ihnen gelassen wird. Damit wollte ich sagen: Im Aushalten des Geheimnisses steckt die Möglichkeit zur Begegnung. Nach Buber setzen wir den anderen immer in Abhängigkeit zu uns: Er ist entweder nicht wie wir, oder er ist wie wir. Zu einem Geheimnis aber kann man sich nicht ins Verhältnis setzen. Das Wissen um das Geheimnis, ohne es lüften zu wollen, gibt uns die Möglichkeit, den anderen als Du anzuerkennen.
Sie entwickeln die Geschichten der beiden parallel, wechseln die Perspektive. Liegen Ihnen beide gleichermaßen am Herzen?
Noam fast noch mehr als Nike. Weil er niemanden hat. Weil er im Gegensatz zu Nike viel einsamer ist. Er trägt eine doppelte Einsamkeit – nicht nur aufgrund seines Geheimnisses. Er ist auch alleingelassen in der Auseinandersetzung, Bearbeitung und vielleicht auch Auflösung seines Bruches und dem, was ihm passiert ist. Ich wollte unbedingt auch über Gewalt schreiben, die Männern passiert. Jeder sechste Mann hat in seiner Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt. Darüber wird viel, viel weniger gesprochen.
Was Noam passiert, ist unmittelbare Folge der Schoa auf nachfolgende Generationen. Wie auch schon in »Winternähe« greifen Sie hier das Motiv der Kontinuität auf.
Es sind zwei Motive, die meinem Schreiben zugrunde liegen. Zum einen, dass die Vergangenheit für niemanden abgeschlossen ist, und zum anderen, dass wir schuldig und unschuldig zugleich sind. Aber Menschen denken nicht in Kontinuitäten, sondern in abgeschlossenen Ereignissen – das ist einfacher. Und sie denken binär in Gut und Böse, falsch und richtig, schuldig und unschuldig. In meiner schriftstellerischen Arbeit geht es mir die ganze Zeit darum, Personen und Geschichten zu kreieren, die dem entgegenhalten. Das ist das Schöne an der Literatur: Die Figuren entziehen sich einfachen Lösungen und Wahrheiten. Damit verhindere ich das, was Menschen so gerne machen: schnelle Lösungen und einfache Wahrheiten parat zu haben.
Warum ist Ihnen das wichtig?
Weil ich die große Hoffnung habe, dass sie beim Lesen automatisch lernen, dass das Leben so ist wie die Figuren, wie die Geschichte: komplex.
Damit fordern Sie die Leser heraus – wie auch in Ihren Kolumnen oder auf Instagram. Was wollen Sie dort vermitteln?
Ich will Menschen daran erinnern, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Dass niemand konformistisch leben muss. Dass man frei ist. Dass Freiheit aber immer bedeutet, im Rahmen von Bedingungen und Grenzen zu agieren. Diese Perspektiven sind im Moment nicht besonders gefragt.
Sie ecken damit ziemlich an. Themen wie Antisemitismus und Israel–Palästina, aber auch Feminismus und Mutterschaft – krasser geht es kaum.
Ich ecke gewiss an. Vor allem in bestimmten Kreisen. Auf der anderen Seite sprechen 23.000 Follower dafür, dass ich nicht ganz alleine bin und es da draußen Menschen gibt, die mich genau für diese Differenziertheit schätzen, die genauso irritiert sind wie ich über das Konformistische und Autoritäre, was aus diesen linken Bubbles kommt.
Sind Sie Cancel-Culture-resistent?
Ich bin total Cancel-Culture-resistent. Nun muss man sagen, dass ich seit zehn Jahren über die beiden Themenblöcke schreibe, die die größten Empörungswellen auslösen. Ich suche mir das nicht aus, weil mich Provokation interessiert. Das, was ich denke, provoziert offensichtlich. Das, was ich sage, ebenfalls. Die einzige Chance, diese Empörungswellen zu verhindern, wäre, zu schweigen. Das hieße aber auch, nicht mehr Mirna sein zu können. Warum sollte ich das tun? Nur weil da draußen irgendwelche Beates aus Bottrop finden, dass das gar nicht geht, was ich sage.
2014 sind Sie nach den antisemitischen Ausschreitungen hierzulande infolge des damaligen Gaza-Krieges nach Israel gegangen. Haben Sie gerade ein Déjà-vu?
Ja, aber ich bin auch viel abgehärteter als 2014. Ich bin überhaupt nicht überrascht von dem, was gerade passiert. Ich finde diese Situation sogar ein Stück weit befreiend – auch in Bezug auf die linken, intersektionalen und aktivistischen Bubbles, die sich als die großen »Justice warrior« in den letzten Jahren inszeniert haben – nur, dass bei Juden Ende mit »Justice« ist. Auch das war für mich von Anfang an klar. Ich habe mich in diesen ganzen Räumen nicht fortbewegen wollen, habe mit denen nichts zu tun haben wollen. Letztes Jahr während der »Black Lives Matter«-Bewegung habe ich nur gedacht: Wenn das einem Juden passieren würde, würde kein Mensch auf die Straße gehen. Und dass das stimmt, können wir aktuell ganz wunderbar beobachten.
Sie sind in Ost-Berlin aufgewachsen mit jüdischem Vater und nichtjüdischer Mutter, außerhalb der deutsch-jüdischen Gemeinde, von Machanot-Erinnerungen und Batmizwa-Erlebnissen. Wird Ihre Geschichte auch innerhalb jüdischer Communitys als Herausforderung empfunden?
Das kommt auf die Community an. Die ist ja nicht homogen. Ein Vorteil war aber, dass ich von Anfang an ehrlich mit meiner Herkunft, Identität und meinen inneren Widersprüchen war. Meine Wunde trage ich stolz vor mir her. Zudem gibt es viele Jüdinnen und Juden, die eine ähnliche Familienkonstellation haben wie ich – für sie war das ein ganz befreiender Moment, dass ich öffentlich immer wieder gesagt habe: Das ist ein innerer Widerspruch, der nicht einfach zu lösen ist. Wir können aber damit lernen zu leben. Dazu kommt, dass Solidarität innerhalb der Community eine große Rolle für mich spielt. Mit den mir gegebenen Möglichkeiten versuche ich, andere Jüdinnen und Juden und ihre Projekte und Aktivitäten sichtbarer zu machen.
Sie moderieren den Podcast »#2021JLID«. Was bedeutet Jüdischsein für Ihre Gäste?
So gut wie alle sagen: Es ist in ständiger Entwicklung, meine Identität ist nicht fertig. Es gab eine große Hoffnung Anfang des Jahres, sich von diesem unangenehmen Triple zu befreien, das Juden in Deutschland definiert: Schoa-Antisemitismus-Nahost. Es sollte einen stärkeren Blick geben auf Kultur, Tradition, Geschichte. Nun sind wir seit zwei Wochen vollständig zurückgeworfen, und man sieht gerade sehr deutlich, dass diese Vorstellung, es könnte irgendwann auch mal ein Leben jenseits dieses Triples geben, völlig utopisch ist. Auch das ist eine Bruchstelle, die ausgehalten werden muss.
Mit der Schriftstellerin sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.