Der Dokumentarfilm »Warum Ukraine« des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy (BHL) erzählt die Geschichte des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Angriffskrieg, der am 24. Februar begonnen hatte. Für den Film hat Lévy Kiew, Odessa, Butscha und Irpin besucht und mit ukrainischen Soldaten, Flüchtlingen und Vertretern der jüdischen Gemeinden gesprochen. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sowie der Politiker und ehemalige Profiboxer Vitali Klitschko kommen zu Wort.
Lévy, der für seine Dokumentarfilme und mehr als 40 Bücher bekannt ist, engagiert sich seit der »Orange Revolution« von 2004 für die Integration der Ukraine in die Europäische Union. Er hat in der Vergangenheit zwischen Paris und Kiew vermittelt und bei der Freilassung der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko nach ihrer Verhaftung im Jahr 2014 geholfen. Das Interview mit Bernard-Henri Lévy wurde nach der Filmpremiere in Israel am Mittwoch vergangener Woche im Tel Aviv Museum of Art geführt.
Herr Lévy, warum sind Sie in die Ukraine gegangen, was ist die Botschaft Ihres Films?
Ich habe sofort verstanden, dass es bei dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine um die Freiheit Europas geht. Als die Invasion begann, war ich über die Grausamkeit des Konflikts, die Kriegsverbrechen sowie die Ermordung unzähliger Zivilisten zutiefst erschüttert. Mit der Rückkehr des Gemetzels nach Europa und bei meiner Rolle als Intellektueller hatte ich das Gefühl, dass ich dort sein muss, um darüber zu berichten.
Welchen Eindruck bekamen Sie, was konnten Sie vor Ort lernen?
Ich habe den Mut und die Größe des ukrainischen Volkes gesehen. Eine Nation, die in Europa mit einer solchen Tapferkeit für sich und universelle Werte der Menschheit kämpft, war herzerwärmend für mich. Das wollte ich filmen.
Was genau meinen Sie?
Die Courage des Widerstands. Die Frauen und Männer in den Schützengräben, die jeden Tag ihr Leben riskieren. Um etwas zu beschützen, das größer ist als sie selbst: Dies ist es, was ich sah und miterlebte.
Es gab Kritik, Ihre Dokumentation sei zu einseitig.
Ich persönlich sehe mich als Pazifisten, und wie jeder normal denkende Mensch bin ich der Meinung, dass Krieg und Faschismus das Schlimmste auf Erden sind. Doch in diesem Konflikt ist Russland ganz klar der Aggressor. Es gab keinen Grund, die Ukraine zu überfallen. Das Nachbarland stellte keine Gefahr für Russland dar. Putin bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Ziel seiner imperialen Politik war es immer, Russland wieder zur alten Größe zu führen.
Hatte er dies nicht 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits angedeutet?
Ja, da schlug das Imperium zurück. Und Russland kehrte auf die Weltbühne zurück. Putins Rede missfiel dem Westen. Doch richtig ernst genommen wurde er nicht.
Manche behaupten, Russland habe der Ukraine bereits 2014 den Krieg erklärt.
Nach dem Georgien-Krieg 2008 unternahm Putin einen weiteren Schritt in seiner imperialen Politik. Zunächst mit Cyberattacken und der Krim-Besetzung von 2014. Die Entscheidung aber, die Ukraine zu überfallen, hatte er getroffen, als die USA anfingen, Afghanistan endgültig zu verlassen. Der Fall von Kabul im August 2021 war in seinen Augen grünes Licht für sein Vorhaben.
Putin spricht von einer »Entnazifizierung« der Ukraine …
Wenn man Putin und seine Schergen im Kreml sieht, deren nationalistische Ideologie von dem radikalen Antisemiten Alexander Dugin beeinflusst ist, dann sollte sich eher Russland »entnazifizieren«.
Bei einigen Ihrer Missionen mussten Sie die westliche Welt davon überzeugen, was in Konflikten – sei es in Libyen oder in Bosnien – vor sich geht. Hier ist es ein bisschen anders. Der Westen hat von Anfang an verstanden, dass in der Ukraine viel auf dem Spiel steht. Was kann er tun, um zu helfen, ohne einen größeren Konflikt zu provozieren?
Der Westen hat verstanden, weil er keine Wahl hatte. Putin zeigte uns, wie viel auf dem Spiel steht. Er hat diese Aggression von Anfang an als einen Krieg weit über die Ukraine hinaus konzipiert. Es ist noch kein Weltkrieg, aber schon zu einem weltweiten Konflikt geworden. Putin hasst Europa und hatte stets das Ziel, den Kontinent zu destabilisieren. In den ärmsten Ländern schuf er eine Hungersnot wie zu Zeiten des Holodomor in den 30er-Jahren in der Ukraine. Die Welt soll sich Putins Willen unterwerfen.
Könnte sich der Westen überhaupt militärisch engagieren?
Ob der Westen seine Bemühungen fortsetzen wird oder nicht – das ist die große Frage. Werden alle Demokratien einschließlich Israel verstehen, dass sie am gleichen Strang ziehen müssen? In einer notwendigen Koalition mit der Ukraine, weil ihnen klar ist, dass sie im gleichen Kampf eine gemeinsame Frontlinie verteidigen? Seit Alexis de Tocqueville gibt es in Demokratien ein Gesetz, das wir alle gut kennen: eine Vielseitigkeit von Meinungsänderungen. Tocqueville sah die Stärke der öffentlichen Meinung, die zur Konformität zwingt. Es ist also eine Herausforderung, weiterhin so konsequent und hartnäckig zu sein, wie es Putin leider ist. Dazu wollte ich mit diesem Film beitragen.
Die Ukraine hat Israel zu Beginn des Krieges um militärische Hilfe gebeten. Aber wegen der Interessen im Konflikt mit Syrien und wegen der jüdischen Gemeinden in Russland und der Ukraine wollte Jerusalem nur medizinische Versorgung leisten. Wie sehen Sie als Verteidiger des jüdischen Staates dessen Rolle im Krieg?
Ich denke, dass Israel auf der Seite der Ukraine ist. Die Israelis teilen die gleichen Werte. Ich habe so viele ukrainische Soldaten oder Freiwillige gefilmt, die mir alle sagten, dass sie den jüdischen Staat als Vorbild sehen. Das hörte ich wirklich oft an der Front: Das Modell des militärischen und zivilen Heldentums ist Israel. Ukrainer bewundern die jüdischen Werte und die israelischen Streitkräfte. Als Israeli im Herzen und engagierter Zionist hoffe ich, Israel und die Ukraine als Schwesternationen zu sehen, die das gleiche Schicksal teilen: allein gegen starke Feinde, die mit Mut und Tapferkeit kämpfen. Es wäre traurig, wenn Jerusalem Kiew die kalte Schulter zeigen würde.
Was sagen Sie zum Treffen zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Yair Lapid und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron Anfang Juli in Paris?
Ich freue mich sehr über Lapids ersten Auslandsbesuch als Premierminister in Frankreich. Beide Länder sind in meinem Herzen. Sie zeigten der Welt, dass Jerusalem und Paris eine Einheit sind und für dieselben Werte stehen. Ein besonderes Zeichen für die freie Welt.
Über welche Themen wurde gesprochen?
Unter anderem über die iranische Bedrohung, über Gaza und die Rolle der Hisbollah im Libanon. Bei Letzterem bin ich mir sicher, dass Paris eine wichtige Rolle spielen kann, dem Zedernstaat dabei zu helfen, seiner Verantwortung in Bezug auf die Geschehnisse zwischen Beirut und Jerusalem gerecht zu werden. Natürlich wurde auch über den weltweiten Gasmangel und die Ukraine diskutiert, weil alles irgendwie miteinander verbunden ist.
Wie meinen Sie das?
Israels Erzfeind Iran und seine Stellvertreter, die den Ukraine-Krieg zu ihrem Vorteil ausnutzen wollen, sind mit Putin verbündet. Vielleicht wird das nicht von Dauer sein, aber für den Moment ist es so. Es gibt eine Achse zwischen Teheran, Ankara, Peking, Moskau und sogar einigen radikal-islamistischen Kräften, darunter viele tschetschenische Kämpfer, die unter dem Aufruf »Allahu akbar« grausame Taten in der Ukraine begehen. Es gibt westliche Kräfte – zu denen ich natürlich Israel zähle – und Kräfte, die sich irgendwie am Westen rächen wollen. Ich nenne sie die »fünf Könige«. Während sich die USA zuletzt immer mehr von ihrer traditionellen Führungsrolle zurückgezogen haben, sind an deren Stelle fünf ehrgeizige Mächte getreten. Ehemalige Imperien, die darauf aus sind, ihre Vormachtstellung und ihren Einfluss geltend zu machen: Russland, China, die Türkei, der Iran und der radikale sunnitische Islamismus. Es handelt sich um einen langsamen Prozess, um die liberalen Werte zu untergraben, die ein Markenzeichen der westlichen Zivilisation sind.
Könnte Putin die nukleare Option wählen?
Das glaube ich nicht, denn dafür liebt er das Leben zu sehr. In den letzten zwei Jahren hatte er aufgrund der Covid-19-Pandemie eine panische Angst, sich anzustecken, und vermied jeglichen Kontakt. Selbst seine engsten Vertrauten mussten manchmal bis zu acht Tage in Quarantäne, bevor er sie traf. Da er also das Leben als Geschenk sieht, wird er nicht den »atomaren Knopf« drücken. Denn er weiß nur zu gut, wie die Gegenreaktion aussehen wird.
Mit dem Philosophen und Publizisten sprach Tal Leder. Der Film »Warum Ukraine« ist in der Arte-Mediathek abrufbar.
Bernard-Henri Lévy wurde 1948 in Béni Saf im damals französischen Algerien geboren. Kurz nach seiner Geburt zog die Familie nach Paris. Sein Philosophiestudium schloss Lévy 1971 ab und arbeitet seither als Dozent, Journalist und Buchautor. In Frankreich besitzt BHL – dieses Kürzel ist seit Jahren sein Markenzeichen – als Mitbegründer der antitotalitären und marxismus-kritischen Nouvelle Philosophie, als kontroverser Publizist und Filmemacher Kultstatus. Zu zahlreichen internationalen Konflikten meldete sich Lévy zu Wort. 2014 sprach der Franzose auf dem Euromaidan in Kiew. Im Jahr 2015 setzte ihn der Kreml auf die »schwarze Liste« derjenigen Personen, denen die Einreise nach Russland untersagt ist.