»Doktoren ehrenhalber« gibt es viele. Ein »Student ehrenhalber« ist nun wirklich etwas Neues und kann sogar die größere Ehre bedeuten. So würdigte die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg (HfJS) zum Semesterauftakt den 90-jährigen Heinz Hesdörffer, der kurz zuvor auch zum »Abiturienten ehrenhalber« ernannt worden war. 70 Jahre nach dem Abitur seines Jahrgangs hatte ihm seine ehemalige Schule 2011 die Allgemeine Hochschulreife zuerkannt (mit Bestätigung des zuständigen Bildungsministeriums). Damit ist Hesdörffer, Deutschlands ältester Abiturient, zum Hochschulstudium berechtigt.
1938 wurde Hesdörffer, damals Klassenbester, der Schule verwiesen, weil er Jude ist. Dem »Gymnasium an der Stadtmauer« in seiner Geburtsstadt Bad Kreuznach kommt nun als einziger Schule deutschlandweit in 70 Jahren die Ehre zu, vergangenes Unrecht anerkannt zu haben und einen ehemaligen Schüler nachträglich das Klassenziel erreichen zu lassen. Für Heinz Hesdörffer ist das nicht nur etwas nachträglich Erreichtes; es ist Ansporn für Neues. Für ihn wie für jeden jungen Studenten bedeutet das Abitur, endlich studieren zu können. Genau das hatte er vor 70 Jahren auch vor. Aber es kam ja anders.
Applaus Bei seiner anrührenden Dankesrede in Heidelberg ließ er ohne Umschweife wissen, wie sehr er sich auf sein Studium freue. Er ließ jene Stationen Revue passieren, die in den zurückliegenden Jahrzehnten statt der beabsichtigten akademischen Karriere sein Leben bestimmten: Flucht mit einem Kindertransport nach Holland, Versteck und Verrat (vielen Anwesenden kamen die Parallelen zu Anne Frank in den Sinn) und anschließende Deportation. KZ, Zwangsarbeit, Todesmarsch. Auswanderung, Neubeginn. Existenzgründung aus dem Nichts. Hesdörffer wurde auch Familienvater. Sein Sohn hat nachgeholt, was ihm selbst verwehrt war: ein Studium, anschließend sogar bahnbrechende Leistungen in der medizinischen Forschung. Darauf ist Heinz Hesdörffer stolz. Seit 2006 ist er wieder in Deutschland, nunmehr als Bewohner des Altenheims der Budge-Stiftung in Frankfurt.
Bei seinen Ausführungen, voller Trauer und zugleich Zuversicht angesichts der frischen Immatrikulation vorgetragen, hielten die zum Festakt geladenen Gäste aus Universität, Politik und Gesellschaft sowie Rabbiner der Orthodoxen Rabbinerkonferenz während der Ansprache den Atem an. Die anwesenden Studenten der Hochschule spendeten stehenden Applaus für ihren Kommilitonen, der gut und gerne der eigene Großvater sein könnte.
Neubeginn Johannes Heil beglückwünschte den frisch gebackenen Studenten während des Festaktes zum Semesterbeginn. Es war zugleich auch ein Neubeginn für Heil, der nun offiziell als Rektor der Hochschule eingeführt wurde. (Bisher war er Erster Prorektor.) Und es war eine lebendige Brücke in die Zeit, als Jüdische Studien eine Blüte in Deutschland erlebten. Heil wies in seiner Festansprache darauf hin, dass die HfJS seit Langem den tot geglaubten akademischen und religiösen Faden der Wissenschaft des Judentums wiederaufgenommen hat.
Mit Hesdörffer und Heil stehen sich Tradition und Neubeginn gegenüber. Die beiden hatten sich in Frankfurt beim Neujahrsgottesdienst in der Synagoge der Budge-Stiftung kennengelernt. Zu Neujahr werden bekanntlich Rückschau und Ausschau gehalten. Die Idee, beides akademisch zu verbinden, lag auf der Hand. Immer wieder war bei der Veranstaltung zu hören: »Möge Heinz ein Langzeitstudent werden, der die nächsten 30 Jahre studiert – bis 120!« Und wünschten ihm für den Fall, dass er das Klassenziel früher erreichen sollte, schon jetzt ein herzliches »Masel tov«.