In Polen ist der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende. Zunächst unmerklich eroberte in den vergangenen 20 Jahren Polens Untergrundarmee aus den Jahren 1942–1945, die Heimatarmee (AK), verloren gegangenes Terrain zurück. Überall in Warschau entstanden ihr zu Ehren Denkmäler, wurden Straßen und Plätze umbenannt, an Häusern Gedenktafeln angebracht.
Mitten in der Stadt erhebt sich heute wie eine Festung das Museum des Warschauer Aufstands. Hohe Mauern und gusseiserne Tore sichern das Museum. Auf dem neuen Wachturm im Innern ist der Anker aus den Buchstaben P und W weithin zu sehen, das Symbol für »Polska Walczaca«, den polnischen Kampf gegen die deutsch-sowjetische Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die weißrote Nationalflagge weht Tag und Nacht.
nachholbedarf »Warschau leidet noch immer unter seinem Kriegstrauma«, erklärt Elzbieta Janicka, Fotografin, Kulturwissenschaftlerin und Autorin des Buches Festung Warschau. »Theoretisch gehört Polen zu den Siegern des Krieges, doch Warschau kennt nur Niederlagen und Zerstörungen, gescheiterte Aufstände, Deportationen in KZs oder ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit.«
Die Kommunisten, die seit 1944 das Land beherrschten, verboten jede Form des Erinnerns an Gräuel, die den Polens von den Sowjets angetan wurden. So gab es zwar schon kurz nach Kriegsende ein großes Mahnmal für den Ghettoaufstand 1943, aber erst 1989 eines für den Warschauer Aufstand 1944. »Nach 1989 ist etwas Seltsames in Warschau geschehen«, erläutert Janicka. »Überall im ehemaligen Ghetto entstanden Plätze und Mahnmale, die an die von den Sowjets nach Sibirien verschleppten Polen erinnern.«
Ins Auge fällt insbesondere die »Muranowska-Achse«. Am einen Ende steht mit dem »Umschlagplatz« das Mahnmal für die Deportation der Warschauer Juden in die Vernichtungslager Treblinka und Majdanek, am anderen Ende das »Mahnmal für im Osten Gefallenen und Ermordeten«. Zwischen beiden Mahnmalen suggeriert ein Wegweiser eine Opfer-Symmetrie: hier die deportierten Juden, dort die deportierten Polen.
opfersymmetrie »Die nach Sibirien Deportierten kamen aber zum größten Teil lebend zurück«, betont Janicka. »Es gibt keine Opfersymmetrie.« Die Züge nach Treblinka und Majdanek fuhren in den Tod. Am Ende stand die Gaskammer. Für die aus Ostpolen in die Sowjetunion verschleppten Polen und Juden war die Deportation zwar furchtbar, viele starben, aber es gab eine Überlebenschance. Für Juden, die im von den Nazis besetzten Polen fast alle umkamen, bedeutete Sibirien das Leben.
Die parallel arrangierten Denkmäler für die jüdischen Deportierten und die polnischen Sowjetopfer zeigen jeweils einen Eisenbahnwaggon. Der des Umschlagplatzes ist abstrakt, der des »Mahnmals für die im Osten Gefallenen und Ermordeten« realistisch.
Im einen sind die Vornamen der Ermordeten eingraviert, vor dem anderen liegen Eisenbahnschwellen mit den Namen der Orte in Ostpolen, in denen besonders viele Polen er schossen wurden. Der »polnische« Waggon transportiert Hunderte von Kreuzen sowie einen muslimischen und einen jüdischen Grabstein. Das Kreuz für die von den Sowjets ermordeten polnischen Reserveoffiziere in Katyn ragt besonders heraus.
umwidmung »Von diesem Platz wurde natürlich kein einziger Pole abtransportiert. Hier war das Ghetto«, berichtet Janicka. »Auf dem Muranowski-Platz fanden die heftigsten Kämpfe während des Ghettoaufstandes statt.«
Doch daran erinnert nur eine Plexiglas-Gedenktafel, die noch dazu von einem Baum überschattet wird. Von dem Platz ging einst die Nalewki-Straße ab, in der vor dem Krieg das jüdische Leben pulsierte. Heute erinnert nichts daran. Spaziergänger gehen vielmehr über den »Platz der nach Sibirien deportierten Mutter«.
»Seltsam ist auch«, so Elzbieta Janicka, »dass wir den Katyn-Gedenktag ausgerechnet am 13. April begehen.« Denn das Verbrechen fand früher statt. Der 13. April hingegen ist der Tag, an dem die Nazis 1943 mit einer großen Propagandaschlacht die Morde in Katyn publik machten.
Ihre antisemitischen Plakate, auf denen »Judäo-Bolschwiken« die polnischen Offiziere von hinten erschossen, verfehlten nicht ihre Wirkung. Als Tage später, am 19. April 1943, der Ghettoaufstand ausbrach, half kaum ein christlicher Pole den verzweifelt um ihr Leben kämpfenden Juden.
»Die bewusst-unbewusste Verdrängung des Jüdischen in der polnischen Gedenkkultur nenne ich ›Festung Warschau‹«, sagt Janicka. »Mental sitzen wir Polen wie im Museum des Warschauer Aufstandes mit seinem Wachturm und den hohen Mauern und verteidigen uns bis heute gegen die Deutschen, die Sowjets und die Juden.«