Biografie

Erinnerungen an Jom Kippur

Unsere Redakteurin hat ein Buch über ihre Familie geschrieben – wir bringen einen Auszug

von Ayala Goldmann  15.09.2021 08:17 Uhr

Drei von sieben Geschwistern: Shraga, Mirjam und Dina Goldmann 1944 in Neve Shaanan Foto: privat

Unsere Redakteurin hat ein Buch über ihre Familie geschrieben – wir bringen einen Auszug

von Ayala Goldmann  15.09.2021 08:17 Uhr

In den Herbstferien sind wir – wie im Sommer – in Südtirol. (…) In unserer Ferienwohnung höre ich Omrys Interview mit meinem Vater ab (das mein Großcousin an Chanukka 2014 mit Shraga Goldmann geführt hatte). Vier Stunden Tonmaterial. Manchmal klingt seine Stimme undeutlich und verwaschen, aber ich erkenne die Geschichten, die ich so sehr geliebt habe, und bin erstaunt über andere, die ich in dieser Form noch nicht kannte.

Mein Vater war ein guter Erzähler, und die Zeit hat für mich gearbeitet: Seit seinem Tod sind fast zwei Jahre vergangen. Jetzt kann ich an das Interview herangehen wie eine Rundfunkautorin, die Material sichtet und O-Töne schneidet. Ich merke, wie meine Kraft zurückkommt. (…)

Am 9. Oktober 2019 machen wir einen Ausflug (…). Am Nachmittag sind wir wieder in unserer Ferienwohnung im Pflerschtal. Mein Mann schaut auf sein iPhone. Ein Attentäter hat versucht, in die Synagoge von Halle einzudringen, ausgerechnet an Jom Kippur, er hat zwei Menschen erschossen. Ich verfolge die Nachrichten nur so lange, bis die Amok-Lage beendet und der Mörder gefasst ist.

Der Anschlag von Halle wird kein Grund für mich sein, mein Land zu verlassen.

Dann bin ich wieder offline bis zum Ende der Ferien. Ich höre keine Nachrichten mehr, ich höre die Stimme meines Vaters, ich schreibe weiter, lasse mich nicht aus dem Konzept bringen. Bis heute bin ich überzeugt davon, dass der Anschlag von Halle kein Grund für mich sein wird, mein Land zu verlassen. Und ich glaube, dass mein Vater mir zugestimmt hätte – er, der als knapp dreijähriger jüdischer Junge im September 1938 das Glück hatte, aus Europa entkommen zu können.

TRIEST Die Aufnahme läuft, ich höre die Geschichte von der Überfahrt: Das Erste, was mein Vater aus seiner frühen Kindheit erinnerte, war die Schiffsreise nach Palästina.

Wir sind 1938 mit einem Zug von Berlin nach Triest gefahren, dort hat das Schiff abgelegt. Ich erinnere mich, dass ich entweder im Zug oder auf dem Schiff in der oberen Etage geschlafen habe. In einer Art Koje, vielleicht in der fünften Klasse (lacht …). Wir sind an Rosch Haschana 1938 an Land gegangen. Warum weiß ich das? Weil der Hafen in Haifa am jüdischen Neujahrsfest geschlossen war, aber die Engländer fanden ein Schiff voller Juden zu gefährlich, und sie haben alle angewiesen, das Schiff zu verlassen. Mein Vater und meine Mutter haben ein Taxi genommen, und der Taxifahrer hat sie reingelegt und ein paar Runden von der Ir Tachtit (Unterstadt) bis Hadar Hair gedreht, die Fahrt dauerte fast eine Stunde. An der Ecke Balfourstraße/Herzlstraße haben wir zufällig Esther und Rudi getroffen. Rudi schaute uns an und sagte zu Esther: »Schau mal, da laufen zwei Leute auf der Straße, der eine sieht aus wie dein Vater, und die andere sieht aus wie deine Mutter. Die sind mit sechs Kindern unterwegs!« So haben meine Schwester und ihr Mann erfahren, dass wir im Land sind.

Ein Jahr lebten meine Großeltern in Tel Aviv, dann kehrten sie zurück nach Haifa. Genauer gesagt, sie zogen nach Neve Shaanan, eine kleine Siedlung auf einem der Hügel des Karmelgebirges, einige Kilometer von Haifa entfernt.

Über Neve Shaanan, ein Begriff aus der Hebräischen Bibel, heißt es in der revidierten Luther-Übersetzung der Biblia Hebraica: »Deine Augen werden Jerusalem sehen, eine sichere Wohnung« (Jeschajahu 33,22). In anderen Übersetzungen wird Neve Shaanan als »sorgenfreie Wohnstätte«, »sorgenfreie Aue« oder »friedlicher Wohnort« bezeichnet.

SIEDLUNG Um einen solchen Ort zu schaffen, hatten jüdische Einwanderer aus Europa, die meisten von ihnen Mittelständler, von palästinensischen Arabern Böden gekauft und 1922 Neve Shaanan gegründet. Zunächst wurde das Wasser mit Eimern in das neue Dorf auf dem Berg geschafft. 1925 entstand ein Wasserturm, 1926 wurde eine asphaltierte Straße nach Haifa gebaut,1930 erhielt die Siedlung einen Anschluss an das Stromnetz des Landes. In den Dreißigerjahren wuchs Neve Shaanan weiter: 1926 zählte die Siedlung 600 Einwohner, 1938 schon 1100 Menschen. Kurz bevor meine Großeltern mit dem Schiff in Haifa eintrafen, wurde im Oktober 1938 ein weiteres Viertel eingemeindet: Shechunat Ziv, die »Nachbarschaft des Lichts«. Dort ließen sich Mottel und Ides, meine Großeltern, mit ihren Kindern nieder.

Meine Eltern kauften das Haus in Shechunat Ziv in Neve Shaanan, ein Haus mit einem einzigen Wohnzimmer und zwei Läden – einem Fleischladen, wo nie Fleisch verkauft wurde, und einem Makolet (Lebensmittelgeschäft – wörtlich: »Alles drin«). Das Haus kostete 25 Lirot, das war damals viel Geld. Ein Sack Orangen kostete drei Groschen. Die Deutschen hatten meinem Vater etwas Geld gelassen, ich weiß nicht genau, warum. (…) Mein Vater betrieb den Makolet, er arbeitete nicht mehr als Schuhmacher. In Israel liefen alle mit Sandalen herum, und niemand hatte Geld, Schuhe zu kaufen.

Im Laden lebten Mäuse, mein Großvater schaffte eine Katze an. Meine Cousine Dania erzählt, dass zum Schabbat manchmal Tauben geschlachtet wurden, die auf dem Dach wohnten, und dass meine Großmutter Ides eine wunderbare Köchin war, die keinen Ofen hatte, sondern auf einem Primus mit Gas kochte. Laut meinem Vater wurde jedem der sechs im Haushalt lebenden Kinder ein »Viertel« zugeteilt, auch wenn es nur ein einziges Huhn für die Familie am Freitagabend gab. Irgendwann merkte er, dass die Rechnung nie stimmte.

In Neve Shaanan lebten Mäuse im Laden, mein Großvater schaffte eine Katze an.

Beide, mein Vater und Dania, erzählten, dass Ides mit einem Messer Assimonim, Telefonmünzen, aus dem öffentlichen Telefonapparat vor dem Haus stocherte und sie in ihrem Büstenhalter versteckte.

KUCHEN Meinem Vater war das peinlich, aber er bewunderte auch die Geschäftstricks seiner Mutter. Freitags buk Ides wunderbare Kuchen und bot den Kundinnen im Makolet an, davon zu kosten. Wenn sie nach dem Rezept gefragt wurde, nannte sie den Hausfrauen falsche Mengen, ein Ei statt vier. Enttäuscht kamen die Frauen zurück, weil ihr Kuchen nicht aufgegangen war, und verlangten den Originalkuchen von Ides – von dem rein zufällig noch ein einziger unter dem Ladentisch zum Verkauf bereitstand, der letzte Kuchen für die ganz spezielle Kundin zum Schabbat. Mein Großvater Mottel, erinnerte sich eine der Kundinnen aus Haifa, ließ anschreiben, wenn jemand nicht sofort bezahlen konnte. »Das waren so gute Menschen!«, sagte sie über die Betreiber des Makolet. Mottel wusste genau, was es bedeutete, wenn Kinder nicht genug zu essen hatten. Und die Methoden, mit denen er die Ernährung seiner vielköpfigen Familie sicherte, waren mitunter rabiat.

Mein Vater war sehr groß und stark, ein riesiger Schlob (Schrank). Unser Laden in Shechunat Ziv lag an der letzten Station von Bus Nummer 2 von Haifa nach Neve Shaanan. Das Gemüse wurde in Haifa in den Bus eingeladen und zu uns in den Laden gebracht. Eines Tages haben die Busfahrer beschlossen, dass sie das nicht mehr machen wollen. Der Fahrer an diesem Tag hieß Moische Malzew, ich erinnere mich an ihn. Malzew hielt an unserer Haltestelle und lud das Gemüse nicht ab, und auch nicht das Lebben, man nannte es auch Lebbenia (Joghurt). Die ganze Ware blieb im Bus. Es war heiß, alles hätte verderben können. Mein Vater lief nach oben zur Haltestelle und fragte Malzew, der dort stand: »Warum hast du das Gemüse nicht ausgeladen?« Malzew sagte: »Ich bin doch nicht dein Träger.« Mein Vater fragte: »Was bist du nicht?« Dann packte er ihn am Kragen und fing an, auf ihn einzuschlagen. Man rief Arie, den Polizisten, das war ein Jekke. Der pfiff auf seiner Pfeife und rief immer wieder: »Aufhören!«

POLIZIST Die Historiker Eli Nachmias und Yonatan Reznik haben 2014 auf Hebräisch eine Lokalgeschichte unter dem Titel »90 Jahre Neve Shaanan – die Entstehung eines Viertels von 1922–2012« herausgegeben. Darin berichten zwei Zeitzeugen: »Eine der mythologischen Gestalten des Viertels war der Polizist Arie. Er hatte eine Pistole und war auf einem Wachturm positioniert.« Doch der bewaffnete jüdische Gesetzeshüter, der aus Deutschland stammte, machte auf den Busfahrer Moische Malzew weniger Eindruck als mein Großvater in seiner Wut.

Omry Goldman: »Und seitdem hat Malzew deinem Vater das Gemüse in den Laden gebracht?«
Shraga Goldmann: »Hatte er eine Wahl?«

Mein Vater erinnerte sich nicht an Spielzeuge. Er hatte keine. Er erinnerte sich auch nicht an Geburtstagsgeschenke. Die Eltern konnten es sich nicht leisten, ihre sieben Kinder zu beschenken. Nur einmal merkte mein Vater als kleiner Junge, dass seine Mutter für seinen Geburtstag Süßigkeiten in einer Schublade sammelte. Aber als der 21. Dezember kam, waren die Bonbons und die Schokolade verschwunden.
Wie sich herausstellte, hatte seine Schwester Mirjam, zwei Jahre älter als er, das Versteck entdeckt und alles heimlich aufgegessen. Mein Vater hat auch als Erwachsener nie großen Wert auf seinen Geburtstag gelegt – wie viele Juden, die in religiösen Familien aufgewachsen sind. »Das ist mir nicht wichtig«, hat er gesagt.

Wir wohnten in der Gilboa-Straße 36. Dort bin ich aufgewachsen, dort bin ich zur Volksschule gegangen. Ich kam 1941 in die Schule. Am Ende des Jahres, nach meinem sechsten Geburtstag am 21. Dezember, drei Monate nach Schulbeginn. (…) Weil ich erst als Sechsjähriger das vierte schulpflichtige Kind der Familie war, und für das vierte Kind musste man kein Schulgeld bezahlen.

SCHULGESCHICHTEN Mein Vater brauchte einige Monate, bis er die anderen Schüler eingeholt hatte und Lesen lernte. Seine Schulgeschichten handeln von überforderten Lehrern, Schülern, die im Klassenzimmer mit Butterbroten warfen, und ständigen Unterbrechungen beim Lernen, weil er für seine kranken Eltern im Makolet einspringen musste. 1943, als ihr jüngster Sohn acht Jahre alt war, erlitt Ides einen Schlaganfall und war seitdem halbseitig gelähmt.

Das Gesicht war etwas schief, sie hinkte und hatte Probleme mit einer Hand. Sie nahm die andere Hand zu Hilfe und zog sie nach. Wenn ich mit ihr spazieren ging, dauerten zwölf Meter eine halbe Stunde. Aber man sagte ihr, dass Spazierengehen ihr helfen würde, gesund zu werden.

Ayala Goldmann: »Schabbatkind«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 182 S., 19,90 €. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

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