Jean Améry und Paul Celan ertrugen das Leben nach dem Überleben nicht bis zum natürlichen Ende. Sie begingen Suizid. Für die Mutter von Chantal Akerman war das keine Option. Die in Tarnów geborene Auschwitz-Überlebende hing am Leben, auch als dieses nicht mehr viel bot.
Die Tochter, 1950 in Brüssel geboren, wurde Filmemacherin, nonkonformistisch, radikal in ihrer Arbeitsweise – und das von ihrem ersten Film an, den sie mit gerade einmal 18 Jahren schuf. Saute ma ville erregte bei den Oberhausener Kurzfilmtagen Aufsehen. Der Versuch, in ihrer Küche Ordnung zu schaffen, endet damit, dass alles inklusive der Hauptfigur, die sie selbst spielte, dank eines Gasherdes in die Luft fliegt.
freigeist Ihr feministischer Freigeist ließ sie zu einer angesagten Filmschaffenden und Videokünstlerin werden. Immer wieder ging es dabei um ihre Mutter, die zwei Jahre in Auschwitz verbrachte, dort die Eltern verlor, doch nie darüber sprach. Akerman beschrieb sich einmal als »typisches Überlebenskind«, als Sechsjährige hatte sie Albträume vom Lager.
Bilder im Kopf, verstehen zu wollen, was das Leid der Mutter im KZ, die U-Boot-Erfahrung des Vaters in der Illegalität in Brüssel ausmachte, sollten Akerman lebenslang nicht loslassen.
Bilder im Kopf, verstehen zu wollen, was das Leid der Mutter im KZ, die U-Boot-Erfahrung des Vaters in der Illegalität in Brüssel ausmachte, sollten Akerman lebenslang nicht loslassen. Von News from Home (1977) bis No Home Movie (2014) war ein weiter Weg. Diese Dokumentation, ein Porträt der Mutter Natalia, die viel von sich gab und doch eisern schwieg, war ihre letzte Arbeit.
Hierzulande kann man sie erst jetzt in Gänze verstehen dank der deutschen Übersetzung von Meine Mutter lacht. Zehn Jahre zuvor war dieses Buch in Französisch erschienen. Es versammelt Momentaufnahmen aus dem Leben einer alten kranken Frau.
hunger Sie schläft viel, der Tag ist getaktet durch Hygiene-Maßnahmen, Besuche, Mahlzeiten. Essen ist wichtig, auch wenn sie nur noch wenig schafft. Sie weiß, was wahrer Hunger ist. Sie stöhnt, sie lacht, sie freut sich auf das Kommen ihrer beiden Töchter. Sie versucht, die Ältere, die sich als »altes Kind fühlt«, bei jeder Gelegenheit zu berühren und zu küssen.
»Das einzig Rettende ist das Schreiben«, notiert Chantal Akerman. Fragment reiht sich an Flashback, Familien-Fotos illustrieren die Erinnerungen. Während die Mutter um jeden Tag auf Erden kämpfte, gab die Filmemacherin zwei Jahre nach deren Tod auf. Chantal Akerman beendete 2015 in Paris im Alter von 65 Jahren ihr Leben.
Chantal Akerman: »Meine Mutter lacht«. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Diaphanes, Zürich 2022, 208 S., 22 €