Roman

Erinnerungen an der Wäscheleine

Foto: Hoffmann und Campe

Roman

Erinnerungen an der Wäscheleine

Dasa Drndic vermischt in »Sonnenschein« dokumentarische Realität mit einer fiktiven Familiengeschichte

von Wolf Scheller  16.03.2015 16:45 Uhr

Dasa Drndic, Jahrgang 1946, ist in Kroatien eine viel beachtete und respektierte Autorin. Ihr Roman Sonnenschein ist ihr erstes Buch, das in deutscher Übersetzung erscheint – ein Buch, das mit dem Genrebegriff Roman freilich unzureichend charakterisiert ist. Die inhaltliche Gestaltung schwankt zwischen Faktischem und Fiktivem, präsentiert in einem Sprachgestus, der oft enthemmt daherkommt, aber gerade deswegen den Leser wie in einer Umklammerung festhält.

In der Via Aprica 47 in Gorizia versucht die Protagonistin, die 83-jährige Haya Tedeschi, sich mithilfe von Ansichtskarten, Zeitungsauschnitten, privaten Notizen, Fotos und amtlichen Dokumenten an das wechselvolle Schicksal ihrer jüdischen Familie zu erinnern.

Patriotisch Die alte Frau weiß nicht, ob ihre Erinnerungen »je wirklich in ihr Gedächtnis gelangt sind oder nur vergessene, versteckte, weggepackte Gegenwart zeigen«. Haya wuchs in einer bürgerlichen, katholischen, patriotischen Familie auf, die ihre jüdischen Wurzeln fast vergessen hatte, als sich in den 1920er-Jahren auch auf dem Balkan der Faschismus ausbreitete.

Haya schwärmt in ihren jungen Jahren für den Filmstar Kristina Söderbaum, von der sie jetzt beim Kramen – wir schreiben das Jahr 2006 – ein Foto der »goldblonden, blauäugigen und unschuldigen Inkarnation arischer Weiblichkeit« findet. Hayas Familiengeschichte beginnt aber nicht erst in Gorizia, das auf Slowenisch Gorcia heißt und auf Deutsch Görz.

Aus dem vor ihr stehenden roten Korb »holt sie ihr Leben und hängt es an die imaginäre Leine der Wirklichkeit«. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass sich ihre Erinnerungsfäden auch mit dem Leben ihrer Vorfahren verbinden, die im Ersten Weltkrieg von einem Ort zum anderen zogen, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen.

Epoche So entwirft Drndic das Bild einer Epoche, deren kriegerische Wirren auf dem Balkan den Grundstein für den jugoslawischen Vielvölkerstaat legten. Anfangs sieht Hayas Familie im Aufkommen des Faschismus die Chance für einen nationalen Aufbruch. Dann aber zwingt sie die Übernahme der deutschen Rassengesetze zur Flucht. Haya flieht nach Rom, kommt vom Regen in die Traufe und weicht nach Albanien aus, das aber auch schon von Mussolini besetzt ist.

Hayas Vater wird gleichwohl bei einer italienischen Bank in Vlora angestellt – noch hoffen er und seine Familie, dass es sich bei den antijüdischen Gesetzen um einen behebbaren Fehler, vielleicht sogar um einen Irrtum handelt. Und als der Krieg beginnt, glauben sie noch lange daran, dass die Sache gut ausgeht. Am Ende werden sie von albanischen Partisanen davongejagt – nicht als verfolgte Juden, sondern als Repräsentanten der italienischen Besatzungsmacht. Am Schluss landen sie alle wieder in Gorizia.

Dort lernt Haya den SS-Mann Kurt Franz kennen – und wird von ihm schwanger. Das Kind, Antonio Tedeschi, wird ihr vom Vater weggenommen und in ein Lebensbornheim nach Österreich gebracht. Der Name Kurt Franz taucht später auf den Kriegsverbrecherlisten auf. Er war für die Deportation der italienischen Juden aus dem Triestiner Hinterland in die KZs verantwortlich.

Realität Kurt Franz gab es also tatsächlich. Dasa Drndic gelingt es mit reichlich Kühnheit, diese reale Figur mit dem Schicksal der fiktiven Familie Tedeschi zu verbinden. Realität und Fiktion verschmelzen miteinander, und trotzdem gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass es der Autorin nicht um spekulatives Erfinden geht, sondern um das Erhellen einer Vergangenheit, deren Geschichte sie als »verlogene, hinterhältige Mutter des Lebens« dekuvriert.

Dazu gehört auch, dass die Autorin 70 Seiten in das Romankorpus aufnimmt, auf denen die Namen der deportierten Juden aufgeführt sind. Dem schließt sich im dritten Teil eine Montage von Gerichtsprotokollen an, aus denen hervorgeht, wie sich die Täter immer wieder mit dem Argument von Befehl und Gehorsam aus der Verantwortung zu stehlen versuchten.

Dasa Drndic: »Sonnenschein«. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetic. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 400 S., 24 €

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  28.03.2025

Patrick Modiano

Tanz durch die Erinnerung

Patrick Modianos Hommage an eine namenlose Tänzerin widmet sich den kleinen Dramen des Alltags, die es zu meistern gilt

von Ellen Presser  28.03.2025

Taffy Brodesser-Akner

Vom Dibbuk im Getriebe

Gleich drei Generationen sind in dem neuen Roman der amerikanischen Journalistin und Autorin ziemlich dysfunktional

von Sharon Adler  28.03.2025

Roberto Saviano

Intrigen und Verrat

Der italienisch-jüdische Autor schreibt sprachgewaltig in zwölf Erzählungen über die Frauen in der Mafia

von Knut Elstermann  28.03.2025

Thomas Mann

König der Emigranten

Martin Mittelmeier beleuchtet Leben und politisches Wirken des Nobelpreisträgers im kalifornischen Exil

von Tobias Kühn  28.03.2025

Assaf Gavron

Weltregierung und Einsamkeit

Erfrischend, erstaunlich, spannend: Zwei neue Erzählungen des israelischen Autors

von Maria Ossowski  28.03.2025

Geschichte

Mehr als die Bielski-Brüder

Der NS-Historiker Stephan Lehnstaedt hat ein erhellendes Buch über den jüdischen Widerstand veröffentlicht

von Alexander Kluy  28.03.2025

Friedl Benedikt

Die Schülerin

Im Nachlass von Elias Canetti wurde die vergessene literarische Stimme einer beeindruckenden Autorin gefunden

von Sophie Albers Ben Chamo  28.03.2025

Lille

Oliver Masucci lernte für Serie Hebräisch

Der amerikanisch-israelische Mehrteiler »The German« hat auf Europas größtem Festival für TV-Serien viel Anerkennung gefunden. Doch der Schatten des Krieges in Gaza und Israel erreichte auch dieses Historien-Drama

von Wilfried Urbe  28.03.2025