Dasa Drndic, Jahrgang 1946, ist in Kroatien eine viel beachtete und respektierte Autorin. Ihr Roman Sonnenschein ist ihr erstes Buch, das in deutscher Übersetzung erscheint – ein Buch, das mit dem Genrebegriff Roman freilich unzureichend charakterisiert ist. Die inhaltliche Gestaltung schwankt zwischen Faktischem und Fiktivem, präsentiert in einem Sprachgestus, der oft enthemmt daherkommt, aber gerade deswegen den Leser wie in einer Umklammerung festhält.
In der Via Aprica 47 in Gorizia versucht die Protagonistin, die 83-jährige Haya Tedeschi, sich mithilfe von Ansichtskarten, Zeitungsauschnitten, privaten Notizen, Fotos und amtlichen Dokumenten an das wechselvolle Schicksal ihrer jüdischen Familie zu erinnern.
Patriotisch Die alte Frau weiß nicht, ob ihre Erinnerungen »je wirklich in ihr Gedächtnis gelangt sind oder nur vergessene, versteckte, weggepackte Gegenwart zeigen«. Haya wuchs in einer bürgerlichen, katholischen, patriotischen Familie auf, die ihre jüdischen Wurzeln fast vergessen hatte, als sich in den 1920er-Jahren auch auf dem Balkan der Faschismus ausbreitete.
Haya schwärmt in ihren jungen Jahren für den Filmstar Kristina Söderbaum, von der sie jetzt beim Kramen – wir schreiben das Jahr 2006 – ein Foto der »goldblonden, blauäugigen und unschuldigen Inkarnation arischer Weiblichkeit« findet. Hayas Familiengeschichte beginnt aber nicht erst in Gorizia, das auf Slowenisch Gorcia heißt und auf Deutsch Görz.
Aus dem vor ihr stehenden roten Korb »holt sie ihr Leben und hängt es an die imaginäre Leine der Wirklichkeit«. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass sich ihre Erinnerungsfäden auch mit dem Leben ihrer Vorfahren verbinden, die im Ersten Weltkrieg von einem Ort zum anderen zogen, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen.
Epoche So entwirft Drndic das Bild einer Epoche, deren kriegerische Wirren auf dem Balkan den Grundstein für den jugoslawischen Vielvölkerstaat legten. Anfangs sieht Hayas Familie im Aufkommen des Faschismus die Chance für einen nationalen Aufbruch. Dann aber zwingt sie die Übernahme der deutschen Rassengesetze zur Flucht. Haya flieht nach Rom, kommt vom Regen in die Traufe und weicht nach Albanien aus, das aber auch schon von Mussolini besetzt ist.
Hayas Vater wird gleichwohl bei einer italienischen Bank in Vlora angestellt – noch hoffen er und seine Familie, dass es sich bei den antijüdischen Gesetzen um einen behebbaren Fehler, vielleicht sogar um einen Irrtum handelt. Und als der Krieg beginnt, glauben sie noch lange daran, dass die Sache gut ausgeht. Am Ende werden sie von albanischen Partisanen davongejagt – nicht als verfolgte Juden, sondern als Repräsentanten der italienischen Besatzungsmacht. Am Schluss landen sie alle wieder in Gorizia.
Dort lernt Haya den SS-Mann Kurt Franz kennen – und wird von ihm schwanger. Das Kind, Antonio Tedeschi, wird ihr vom Vater weggenommen und in ein Lebensbornheim nach Österreich gebracht. Der Name Kurt Franz taucht später auf den Kriegsverbrecherlisten auf. Er war für die Deportation der italienischen Juden aus dem Triestiner Hinterland in die KZs verantwortlich.
Realität Kurt Franz gab es also tatsächlich. Dasa Drndic gelingt es mit reichlich Kühnheit, diese reale Figur mit dem Schicksal der fiktiven Familie Tedeschi zu verbinden. Realität und Fiktion verschmelzen miteinander, und trotzdem gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass es der Autorin nicht um spekulatives Erfinden geht, sondern um das Erhellen einer Vergangenheit, deren Geschichte sie als »verlogene, hinterhältige Mutter des Lebens« dekuvriert.
Dazu gehört auch, dass die Autorin 70 Seiten in das Romankorpus aufnimmt, auf denen die Namen der deportierten Juden aufgeführt sind. Dem schließt sich im dritten Teil eine Montage von Gerichtsprotokollen an, aus denen hervorgeht, wie sich die Täter immer wieder mit dem Argument von Befehl und Gehorsam aus der Verantwortung zu stehlen versuchten.
Dasa Drndic: »Sonnenschein«. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetic. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 400 S., 24 €