Das Gedächtnis trennt», sagt der französische Historiker Pierre Nora. Insofern kann es nicht erstaunen, dass sich in Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Nationalsozialismus und die Schoa in Europa kein kohärentes Gedächtnis entwickelt hat. Lange Jahre war die öffentliche Erinnerung durch die Systemgegensätze zwischen parlamentarischen Demokratien und kommunistischen Diktaturen geprägt.
Die antifaschistische Legitimation der SED-Führung stand dem antitotalitären Konsens der Bundesrepublik unvermittelt gegenüber. Beiden geschichtspolitischen Ansätzen gemein war indes die Heroisierung des Widerstands, die Selbstviktimisierung und die Marginalisierung des Judenmords.
In der Tat hat der Systemkonflikt die geschichtspolitischen Konstellationen beider deutscher Nachkriegsgesellschaften maßgeblich geprägt: Während in den öffentlichen Akten des Gedenkens in der SBZ und späteren DDR die antifaschistischen Widerstandskämpfer im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, dominierten in Westdeutschland zunächst religiöse Deutungsmuster des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen.
Die Bundesrepublik hat sich stets erneut christlicher Zeichen und Symbole bedient, um auf diese Weise die NS-Verbrechen in einen enthistorisierten Metakontext zu stellen. Als Stichwort sei hier nur die in Bonn 1983 diskutierte Errichtung einer «Nationalen Gedenkstätte für die Kriegstoten des deutschen Volkes» genannt, die in Form einer überdimensionierten Dornenkrone realisiert werden sollte.
Die Entwicklung der Memorialkulturen nach 1945 zeigt, wie sehr «das Gedächtnis trennt», wie unterschiedlich, wie konfliktreich sich die «geteilte Erinnerung» gestalten kann. Wenn aber Erinnerung ein so diverses, ja umstrittenes Phänomen ist, wie kann man sich dann ihr verpflichten? Warum glaubt man, dass die Erinnerung einen auf die Zukunft hin gerichteten, verpflichteten Charakter hat?
Pathosformel «Erinnerung» wird im öffentlichen Diskurs, so Volkhard Knigge, zunehmend als «moralisch aufgeladene, eher diffuse Pathosformel gebraucht. Die Selbstgenügsamkeit von Erinnerung», so heißt es weiter, «ihre Abkopplung von geschichtswissenschaftlicher Forschung und methodisch fundierter Vernunft, ihre Transformation in unhinterfragbare historische Offenbarung (…) ist entweder naiv oder bahnt politischen Religionen und deren hohen Priestern den Weg.»
Auch die Praxis öffentlichen Gedenkens ist stets von einem dominanten Interesse an normativen Setzungen geleitet. Vergangenes wird mit der Kraft des Normativen ausgestattet, um daraus Handlungsprämissen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Bei Akten öffentlichen Gedenkens handelt es sich um Prozesse der Vergemeinschaftung: Es geht um die Konstitution eines «Wir», einer Gemeinschaft, die einerseits verbal – in den Reden und Gedenkansprachen –, andererseits über performative Akte wie beispielsweise das gemeinsame Singen oder Schweigen hergestellt wird.
Nicht zuletzt sind kommemorative Praktiken Trauernden eine Hilfe im Umgang mit Verlust. Auf die Erfahrung von Gewalt und Tod wird in Akten öffentlichen Gedenkens ein Prinzipielles, Zeitloses und daher Gültiges angerufen als eine Instanz, die Leben und Tod gleichermaßen übersteigt. Gott, Deutschland, Volk, Nation, die Vorsehung oder das Schicksal waren im 20. Jahrhundert Schlüsselbegriffe, mit denen, entgegen dem real erfahrenen Bruch, eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten behauptet wurde. Öffentliches Gedenken thematisiert die Erfahrung von Trennung und Schmerz auf eine Weise, die Anschlusshandlungen und Perspektiven auf ein Weiterleben ermöglicht.
Auf den ersten Blick scheinen die Formen des Gedenkens – die Ansprachen, das Niederlegen von Kränzen, die musikalischen Beiträge oder auch das kollektive Schweigen, das Verlesen von Namen der Toten, das Aufstellen von Kerzen – seltsam ahistorisch und erwecken in ihrer suggestiven Selbstverständlichkeit den Anschein einer unhinterfragbaren Ordnung der Dinge. De facto aber ist die Formensprache des Gedenkens Ausdruck einer ebenso religiös wie national tradierten Memorialkultur, die sich – so meine These – gegenüber den politischen Brüchen im 20. Jahrhundert in Teilen als erstaunlich resistent erwiesen hat.
Ein Beispiel ist das Tragen und Niederlegen von Kränzen: Der Kranz, in antiken und frühchristlichen Schriften nicht von der Krone zu unterscheiden, ist ein Zeichen des Sieges, des Triumphes und der Ehrerbietung. Im nationalen Totenkult, aber auch in der bürgerlichen Begräbniszeremonie, ist das Niederlegen von Kränzen ein unverzichtbarer Akt.
Zerstörung Kranzniederlegungen können aber auch zu Foren umkämpfter Vergangenheit werden. Ein Beispiel ist die Veranstaltung des Berliner Senats zum Gedenken an den Mauerbau am 13. August 2001: Bundeskanzler Schröder und Berlins Bürgermeister Wowereit ehrten mit ihren Kränzen die Toten. Doch die Vertreter von Opferverbänden des SED-Regimes nutzten den Mauergedenktag zu Protesten gegen die Zusammenarbeit von SPD und PDS: Sie zertraten den Kranz der PDS mit Füßen.
Die Zerstörung von Kränzen und Kranzschleifen hat indes Tradition: Als sich die Ehrung der Barrikadenkämpfer von 1848 auf dem «Friedhof der Märzgefallenen» in Berlin zu einer Demonstration gegen den preußischen Obrigkeitsstaat entwickelte, konfiszierte die preußische Polizei unerwünschte Kranzschleifen – im Jahr 1908 waren es sogar 60 Stück.
Geschichte ist zu einer Identitätsressource par excellence geworden. Verschiedene Gruppen finden brauchbare Vergangenheiten, um einen souveränen Status zu behaupten und Anerkennung durchzusetzen. Die Formensprache des Gedenkens ist dabei konservativ geblieben und beschränkt sich auf wenige Grundmuster. Die Praxis öffentlichen Gedenkens scheint auf eigentümliche Weise der Zeit enthoben und signifiziert eine Dimension über den alltäglichen Dingen und Interessen. Gerade deshalb aber ist immer wieder zu fragen, welche identitätspolitischen und sozialen Interessen den Akten öffentlichen Gedenkens zugrunde liegen.
Die Autorin ist Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat «Geteilte Erinnerung. Gedenken in der deutschen Gesellschaft – Erinnern in der jüdischen Gemeinschaft» (1. bis 3. November in Frankfurt am Main) halten wird.