TikTok

Erinnerung mit Kurzvideos

Viele Inhalte auf TikTok zur Schoa sind falsch oder verzerren die Wahrheit. Foto: imago images/ZUMA Wire

Bis vor ein paar Monaten kannten nur vergleichsweise wenige Menschen den Namen Lily Ebert. Das hat sich geändert, seit sie auf dem sozialen Netzwerk TikTok präsent ist. Das Besondere an Ebert ist nicht nur, dass sie als 98-jährige Urgroßmutter nicht unbedingt die typische Influencerin auf der für Kurzvideos bekannt gewordenen Plattform ist.

Die gebürtige Ungarin, die heute im Londoner Stadtteil Brent Cross lebt, ist auch eine Überlebende des NS-Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Und sie nutzt TikTok, um über ihr Leben und ihr Schicksal in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Aber nicht nur das: Ebert ist in den von ihrem Urenkel aufgenommenen Videos in allen Lebenslagen zu sehen, auch auf Spielplatzrutschen und -schaukeln. Im Ohrensessel erzählt sie, mit einer Kaffeetasse in der Hand, von ihrem Schicksal in Auschwitz.

Die Schoa-Überlebende Lily Ebert und ihr Urenkel Dov Forman unterhalten einen TikTok-Kanal.

Produziert werden die Clips von Dov Forman. Der 18-Jährige ist einer von Eberts mittlerweile 35 Urenkeln; der jüngste Nachfahre wurde vor drei Wochen geboren. Vor einem Jahr – Ebert war gerade von einer Covid-Erkrankung genesen – erschien das erste Kurzvideo mit ihr auf TikTok. Schnell löste der Kanal von Ebert und Forman weltweit mediale Aufmerksamkeit aus. Das brachte auch die Follower-Zahlen in lichte Höhen.

GENERATION Z TikTok ist also eine Möglichkeit, um einer jüngeren Generation das Thema Schoa nahezubringen. Studien zeigen, dass sich gerade die sogenannte Generation Z, die Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen, von den Inhalten auf dem Netzwerk und ihrer besonderen Präsentation angesprochen fühlt.

Jeden Monat nutzen mehr als eine Milliarde Menschen weltweit den ursprünglich in China gegründeten Kurzvideodienst, in Europa sind es rund 100 Millionen. Rund zwei Drittel aller Posts dort werden von Nutzern aus dieser Alterskohorte gepostet.

Waren es anfangs überwiegend unterhaltsame Inhalte, die ihren Weg auf die Plattform fanden, wird auf TikTok zunehmend auch ernsthaft über gesellschaftspolitische Themen debattiert. Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar legte das Unternehmen sogar ein Themenspecial auf.

Neuerdings sind sogar mehrere KZ-Gedenkstätten auf TikTok vertreten. Sie veröffentlichen – überwiegend auf Englisch – kurze informative Videoclips. Vorreiter in Deutschland ist die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Neuen­gamme bei Hamburg. Auf deren TikTok-Seite stehen schon 38 Clips, und regelmäßig werden neue produziert.

ERKLÄRVIDEOS Die Erklärvideos sind meist weniger als eine Minute lang. Darin werden die Schicksale einzelner Opfer beleuchtet und Fragen zu Neuengamme beantwortet. So erklärt ein Clip die Markierungen auf den Uniformen, die die Häftlinge tragen mussten. Mehr als 400.000 TikTok-Nutzer sahen sich den Beitrag bereits an.

Iris Groschek von der Gedenkstätte betont: »Wir wollen Informationen zum Ort weitergeben, und das auf eine Weise, die hoffentlich ansprechend ist und dazu führt, dass junge TikTok-Nutzerinnen auf unseren Account stoßen und sagen: ›Hey, das ist eine interessante Geschichte, darüber möchte ich mehr erfahren.‹ Unsere Motivation ist nicht nur, über die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären, sondern auch das Bewusstsein für Vergangenes ebenso wie über aktuelles Unrechtshandeln zu schärfen und auch einen Rahmen zum Nachdenken zu geben.«

In der österreichischen KZ-Gedenkstätte Mauthausen produziert man ebenfalls seit Kurzem Erklärvideos speziell für TikTok. Zwei Personen treten abwechselnd vor der Kamera auf. Eine von ihnen ist Museumsführerin Marlene Wöckinger. »Es ist uns wichtig, in den Dialog mit Menschen zu treten, sowohl vor Ort als auch im digitalen Raum. Das geht auch mit Denkanstößen, die nur eine Minute oder 30 Sekunden lang sind«, sagt sie. Gerade TikTok sei auf den intensiven persönlichen Dialog ausgerichtet, betont Wöckinger.

Das American Jewish Committee und der World Jewish Congress gingen Kooperationen ein.

Nach anfänglichem Zögern und teilweise scharfer Kritik – der Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses (WJC), Maram Stern, brachte im September 2020 sogar eine Abschaltung der Plattform ins Spiel – arbeiten jüdische Organisationen mittlerweile eng mit TikTok zusammen. Der WJC startete nun vergangene Woche gemeinsam mit dem Unternehmen sowie mit der UNESCO in Paris ein Projekt, um Falschinformationen zum Holocaust auf TikTok zu begegnen.

SUCHBEGRIFFE Nutzer, die künftig Suchbegriffe in Zusammenhang mit der Schoa eingeben, sollen direkt zu nachgeprüften Inhalten geleitet werden. Rund ein Sechstel der zu diesem Thema auf TikTok geposteten Inhalte sei falsch oder verzerre die Wahrheit.

Das American Jewish Committee (AJC) ging ebenfalls eine Kooperation mit dem sozialen Netzwerk ein. Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, lobte das Engagement. Damit werde es gerade einer jüngeren Zielgruppe möglich, Überlebende der Schoa kennenzulernen oder sich direkt mit ihnen auszutauschen.

Allerdings, so Botmann weiter, seien die Plattformen auch Orte, »wo sich Menschen in scheinbarer Anonymität trauen, Dinge zu äußern und Straftaten zu begehen, die sie im wahren Leben so nicht begehen würden«. Hass und Hetze müssten daher nicht nur konsequent gelöscht und in ihrer Verbreitung gestoppt werden. Mit der in Deutschland bestehenden gesetzlichen Verpflichtung, Daten der Urheber strafbarer Inhalte an das Bundeskriminalamt zu melden, ist TikTok nicht einverstanden – und klagt sogar dagegen.

ALGORITHMUS Antisemitische Inhalte bleiben oft lange auf der Plattform stehen, bevor sie entfernt werden. Währenddessen beschwerten sich jüdische Influencer in Amerika vor einigen Monaten, dass ihre Videos des Öfteren auf TikTok entfernt würden, wenn sie über Themen wie Antisemitismus aufklären wollten. Schuld daran sei wohl auch der Software-Algorithmus, glauben sie. Wie andere soziale Netzwerke vertraut TikTok nicht nur auf menschliche Intelligenz, sondern auch auf künstliche.

Lily Ebert und Dov Forman in London ficht das jedoch nicht an. Mehr als 380 Kurzvideos haben sie schon auf TikTok veröffentlicht, im Schnitt kommt jeden Tag ein neues dazu. 1,7 Millionen Follower hat ihr Kanal, und fast 25 Millionen haben ihn mit »Gefällt mir« markiert. Aber auch das traditionelle Zielpublikum haben die beiden im Visier: Formans Buch Lilys Versprechen ist seit September auf Englisch und seit Januar auch auf Deutsch in den Buchläden erhältlich. Dank TikTok wird es sicher ein Bestseller werden.

Lily Ebert/Dov Forman: »Lilys Versprechen. Wie ich Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand. Eine wahre Geschichte«. mvg, München 2022, 320 S., 17 €

Sachbuch

Auf dem Vulkan

In »Niemals Frieden?« rechnet der Historiker Moshe Zimmermann mit israelischer Politik ab – und äußert tiefe Sorge um das Land

von Ralf Balke  18.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne auf Hochtouren. Der Grund: Die Hauptdarstellerin ist israelische Jüdin

von Jacques Abramowicz  18.11.2024

Fachtagung

»Unsäglich« - Kritik an Antisemitismus in der Kultur

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische und israelische Kulturschaffende sehr schwierig geworden. Damit beschäftigt sich jetzt eine Tagung in Frankfurt - auf der auch Rufe nach einer differenzierten Debatte laut werden

von Leticia Witte  18.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. November bis zum 21. November

 18.11.2024

Runder Geburtstag

Superheldin seit Kindesbeinen

Scarlett Johansson wird 40

von Barbara Munker  18.11.2024

Netflix

Zufall trifft Realität

Das Politdrama »Diplomatische Beziehungen« geht in die zweite Runde – Regisseurin Debora Cahn ist Spezialistin für mitreißende Serienstoffe

von Patrick Heidmann  17.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.11.2024

Literatur

Schreiben als Zuflucht

Der israelische Krimi-Bestsellerautor Dror Mishani legt mit »Fenster ohne Aussicht« ein Tagebuch aus dem Krieg vor

von Alexander Kluy  17.11.2024

Madoschs Mensch

Wie eine Katze zwei Freundinnen zusammenbrachte – in einem Apartment des jüdischen Altersheims

von Maria Ossowski  17.11.2024