Am 6. Oktober 2023 machte sich M. aus einer kleinen Stadt im Zentrum von Israel auf den Weg zu einer Party im Süden. Sie wollte tanzen, Spaß haben, sich austoben. M. fuhr zum Nova-Festival in der Nähe des Gazastreifens. Am Morgen des 7. Oktober überfielen Hamas-Terroristen die Party. Mehr als 350 junge Israelis wurden vergewaltigt, gequält, zerstückelt, ermordet. M. war eine von ihnen.
Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. Bei einer Familienfeier meiner Verwandten. Sie war Mitte 20, jung, schön, selbstbewusst. M. hatte eine Art, ihren Standpunkt zu vertreten, die mich faszinierte, obwohl ich ihre Meinung nicht teilte. Sie hatte Ausstrahlung. Charakter. Und noch ein ganzes Leben vor sich.
»Meine Schwester M. antwortet nicht. Bitte! Wer hat sie gesehen?«
Am 10. Oktober rief mich meine Verwandte an. M. wurde vermisst. Verzweifelte Hilferufe ihrer Familie auf Facebook: »Meine Schwester M. antwortet nicht. Bitte! Wer hat sie gesehen?« M. hatte sich in einer Bar auf dem Nova-Gelände versteckt und floh in einem Auto, auf das geschossen wurde. Seit dem 7. Oktober um 9.30 Uhr fehlte von ihr jede Spur.
Meine Verwandte hoffte, M. sei als Geisel nach Gaza verschleppt worden. Ich wusste nicht, ob ich ihr das wünschen sollte. Am 13. Oktober erzählte mir die Verwandte am Telefon, dass M.s Leiche identifiziert worden war.
Im Frühjahr flog ich nach Israel. Auf dem Gelände der Party in Reʼim erinnern Schilder mit Namen und Fotos an die Ermordeten. Ich habe M.s Bild gefunden. Im Hintergrund hörte ich Schüsse von Kampfhubschraubern im Gazastreifen. Ich wollte nur weg von diesem Ort. Danach habe ich lange nicht an M. gedacht.
Jetzt, kurz vor dem Jahrestag, kommt die Erinnerung zurück. Und die Fragen. M., warum musstest du sterben? Warum so viele andere in Israel und Gaza?
Warum musste die Mutter, die nichts getan hat, außer mit ihrer Familie in Rafah zu leben, ihren Mann und ihre kleinen Kinder begraben?
Warum musste die Mutter, die nichts getan hat, außer mit ihrer Familie in Rafah zu leben, ihren Mann und ihre kleinen Kinder begraben, nachdem im März das Haus der Familie von einem israelischen Bombenangriff getroffen wurde?
Warum kommen die Geiseln nicht zurück? Mehr als 100 Israelis und Menschen aus anderen Ländern werden noch in Gaza vermutet. Wie viele von ihnen noch leben, weiß niemand genau. Die Hamas hat vor Kurzem sechs von ihnen kaltblütig ermordet. Drei andere wurden im Dezember irrtümlich von israelischen Soldaten erschossen. Wenige konnte das Militär befreien. Die meisten sitzen immer noch in den Tunneln, wenn sie nicht längst tot sind. Die Terroristen machen das Leben der Geiseln und das ihrer Familien zur Hölle. Aber tut Israels Regierung alles, was sie kann, um die Geiseln zu befreien?
»Ich will, dass sie hier sind!«, sagte eine ehemalige Geisel, die nach dem Deal zwischen der Hamas und Israel im November 2023 freikam und deren Mutter immer noch in Gaza festgehalten wird, im Sommer bei einem Treffen mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.
Daraufhin antwortete Netanjahu laut einem Bericht der Online-Zeitung »Times of Israel«: »Es gibt viele Dinge, die wir gerne wollen und die schwer zu bekommen sind. Ich beispielsweise würde gerne zu Fuß in einer geraden Linie nach Italien laufen. Wenn wir das tun müssen, bedeutet es, das Meer auszutrocknen. Also: ›Lasst uns das Meer austrocknen. Wo ist das Problem?‹«
»Das ganze Volk Israel bürgt füreinander«, heißt ein hebräisches Sprichwort
»Das ganze Volk Israel bürgt füreinander«, heißt ein hebräisches Sprichwort. Gilt das heute noch? Einer für alle und alle für einen? Falls ja, warum werden die Angehörigen der Geiseln von Extremisten in Israel bedrängt? Warum die wiederkehrenden Berichte in unterschiedlichen israelischen Medien über zusätzliche Bedingungen, die Netanjahu den Verhandlungsteams angeblich auferlegt haben soll, sobald ein neuer Geiseldeal in Sichtweite schien?
Journalisten wissen nicht alles, schon gar nicht in Kriegszeiten. Auch in der einzigen Demokratie des Nahen Ostens gibt es eine Militärzensur. Dass die Hamas nichts als Tod und Zerstörung im Sinn hat, wissen wir.
Aber dazu kommt die quälende Ungewissheit, ob Israels Regierungschef wirklich alles tut, um die Geiseln nach Hause zu bringen, und der Eindruck, dass er sich selbst auch in dieser Krise am nächsten ist.
Wird das neue Jahr außer Kriegsnachrichten auch Hoffnung bringen?
Monatelang habe ich sofort nach dem Aufstehen auf mein Handy geschaut. Gibt es einen Deal? Bis ich irgendwann aufhörte, schon vor dem Frühstück Nachrichten zu konsumieren, bis ich irgendwann aufhörte zu hoffen, weil ich nicht schon morgens als Erstes verzweifeln wollte.
Vielleicht sollte ich froh sein, dass M. nicht als Geisel nach Gaza verschleppt wurde. Ich kannte sie nicht wirklich. Aber ich denke jetzt an sie, an ihre letzte Party, ihre letzten Stunden. Ich kann M. nicht vergessen.
Ich möchte nicht recht behalten. Sollte es trotz allem ein gutes neues Jahr werden, eines, das außer Kriegsnachrichten – wie kurz vor Rosch Haschana beim Angriff des Iran auf Israel – auch Hoffnung und eine Zukunft für die Familien der Verschleppten bringt, sollte es ein Jahr werden, in dem es einen Geiseldeal gibt, dann wäre ich mehr als glücklich, mich geirrt zu haben.