Herr Wolffsohn, heute vor 100 Jahren ist Marcel Reich-Ranicki geboren worden. Sie sind ihm früher regelmäßig begegnet. Wann haben Sie ihn zum ersten Mal getroffen – und wie erinnern Sie sich an ihn?
Wir haben uns recht spät getroffen, und auch gar nicht so häufig, wie gelegentlich zu lesen ist. Wenn wir telefoniert haben, hielt er gern Monologe. Obwohl ich als Professor auch fürs Reden bezahlt werde, höre ich klugen Leute sehr gerne zu. Und MRR zuzuhören, war faszinierend.
Inwiefern?
Er war charmant streng. Als ich ihn zum ersten Mal zuhause besuchte, wurde ich unverzüglich examiniert: Ich sollte die Namen der zahlreichen an der Wohnzimmerwand hängenden Porträtzeichnungen diverser Schriftsteller nennen. Nachdem ich zu 100 Prozent bestanden hatte, begann der gemütliche Teil. Heißt: Verwöhnt mit gutem Tee und den, wie er hervorhob, besten Pralinen Frankfurts, die seine ebenfalls präsente Frau besorgt hatte, hörte ich zu und hielt – gerne – fast durchgehend meine sonst recht aktive Klappe. MRR war immer geradeheraus. Nie um den heißen Brei herum. Das schätze ich sehr. Er konnte aber auch sehr liebenswürdig und zuvorkommend höflich sein. Welcher Gastgeber steigt mit seinem Gast die Haustreppe hinunter und begleitet ihn zum Taxi, wie MRR?
Es soll da diese Begegnung zwischen Ihnen gegeben haben, in der Reich-Ranicki zwischen Ihnen und Ignatz Bubis vermittelt haben soll …
Stimmt. 1992, nach seiner Wahl zum Chef des Zentralrats, gerieten Bubis und ich, nicht zuletzt öffentlich medial, sehr heftig aneinander, sprich: gegeneinander. Die Kontroverse war sowohl inhaltlich als auch persönlich. Inhaltlich, weil Ignatz Bubis damals eine schärfere Abgrenzung zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland betonte. Persönlich mochten wir uns nicht. So etwas soll es ja geben. Im Dezember 1992 eskalierte unsere öffentliche Konfrontation. Mein Telefon klingelte: MRR am Apparat. »Lieber Herr Wolffsohn, ich habe soeben mit Ignatz Bubis gesprochen und ihm gesagt: So geht das nicht weiter. Ihr beide müsst unverzüglich mit eurem Streit aufhören. Der Streit schadet der jüdischen Gemeinschaft insgesamt. Bubis ist einverstanden, und eigentlich wollt ihr beide das Gleiche. Sie kommen zu mir nach Hause, und dann reden wir.«
Wie ging es dann weiter?
Dieser Mischung aus Befehl, Charme und Vernunft konnte und wollte ich so wenig widersprechen wie Herr Bubis. Wenige Tage später saßen Ignatz Bubis und ich neben dem großen Weihnachtsbaum in der Lobby des Bayerischen Hofes in München. Wir versöhnten uns. Und wenn wieder Not am Mann war, schaltete sich MRR wieder ein. Das tat dankenswerterweise mehrfach auch Salomon Korn. Er brachte das Kunststück fertig, mit uns beiden befreundet zu bleiben.
Marcel Reich-Ranicki langweilte sich sehr schnell und trieb gern seine Gesprächspartner an, noch schneller und noch bessere Anekdoten zu erzählen. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?
Nein. Mir gegenüber bevorzugte er offenbar Vorlesungen. Seine hörte ich gerne.
Die allermeisten Deutschen liebten Marcel Reich-Ranicki. Die einen, obwohl er Jude war, die anderen, weil er Jude war. Wie bewerten Sie das?
Andere Deutsche hassten ihn. Weil oder obwohl er Jude war oder weil es ihnen egal war, ob er Jude war. Auf alle bezogen stimmt eine Kollektivaussage nie.
Wie würden Sie Reich-Ranickis Beziehung zu Israel beschreiben?
Darüber haben wir nie gesprochen. Wie jede Literatur hat er auch die israelische aus seiner fachlichen Sicht bewertet. Während Anfang 1991 der zweite Golfkrieg tobte und irakische Raketen auf Israel prasselten, widmete sich das Literarische Quartett dem damals neuen Roman von David Grossman, Stichwort Liebe. MRR zerfetzte das Buch. Einige Wochen später erhielt Grossman den Nelly-Sachs-Preis. Die Laudatio hielt ich. Danach, beim Essen, schimpfte David wie ein Rohrspatz auf MRR. Will sagen: Einen Israel-Bonus vergab MRR nicht.
Zu Israel hat Marcel Reich-Ranicki sich dennoch zeitlebens – zumindest politisch – nicht gern geäußert. War das ein Zugeständnis an den eher anti-israelischen Mainstream in der Bundesrepublik?
Ich kenne die Gründe nicht. Aber dass MRR Zugeständnisse an welchen Mainstream auch immer gemacht haben soll, halte ich für eine Legende. Er liebte Ruhestörer und war selbst einer. Gottlob.
Reich-Ranicki wollte sich nie auf sein Judentum reduzieren lassen. Sinngemäß sagte er dazu: Ich lasse mich nicht wieder ins Ghetto sperren. Andererseits galt für ihn auch der Satz, den er über jüdische Autoren in seinem Buch Über Ruhestörer schrieb: »Nur dann nämlich, wenn man die spezifische Situation und die Eigenart der deutschen Schriftsteller jüdischer Herkunft ausdrücklich betont, nur dann macht man sie verständlich und trägt zu ihrer Wiedereinbürgerung bei.« Haben Sie den Eindruck, dass er diese Gratwanderung geschafft hat?
Ja. Unbedingt. MRR war ein klassisch jüdisch-europäisch-bürgerlicher Kosmopolit, der für und in der Literatur lebte und da vor allem in der deutschen.
Als Reich-Ranicki 2013 starb, dankten viele dem Verstorbenen ehrfürchtig und zu Recht, dass er den Mut und die Größe hatte, »nach allem und trotz allem« nach Deutschland zurückzukehren. Doch Sie haben diese Haltung auch als etwas unvollständig beschrieben. Aus welchem Grund?
Hilfe. Hab‹ ich das? Da Sie mich fragen, fange ich aber an, mich zu erinnern. Gegen sein Lebensende betonte MRR, wie ich fand, die Abgrenzung zur nichtjüdischen Welt stärker als zuvor. 2013 fand ich das übertrieben. Heute sehe ich das anders. MRR hatte Recht. Der Überlebende hörte besser als ich, wie das Gras schon damals wuchs.
Reich-Ranicki hat zeitlebens auch mit Antisemitismus zu kämpfen gehabt. Haben Sie sich mit ihm mal darüber unterhalten?
Ja. Damals fand ich, dass er zu oft und zu viel Antisemitismus wahrnahm, wo, wie ich meinte, es keinen gab. Wieder: Ich fürchte, er hatte Recht.
In Ihrem Nachruf auf Marcel-Reich-Ranicki haben Sie geschrieben: »Das ist das mit Abstand beste Deutschland, das es je gab, und einer der menschlichsten Staaten dieser Welt. Reich-Ranicki hat das gewusst und auch immer wieder gesagt. Reich-Ranicki hat dem neuen Deutschland viel gegeben. Umgekehrt hat das neue Deutschland Reich-Ranicki viel gegeben. Man nennt so etwas ›Symbiose‹. Es liegt an uns allen, sie dauerhaft zu sichern. Gelingt es uns, erweisen wir uns Marcel Reich-Ranickis Vermächtnis würdig.« Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Ist die Symbiose Ihrer Ansicht nach gesicherter geworden oder sind im Gegenteil die Unterschiede und Konflikte stärker?
Ich bin heute deutlich pessimistischer als 2013. Die neue antisemitische Rechte erstarkt, die Linksantisemiten machen seit jeher mobil, und der uns Juden meist eher feindliche muslimische Faktor wird in der deutschen Innen- und Außenpolitik immer wichtiger und gewichtiger. Da sind wir Juden, anders als einst, aber eben doch wieder Ruhestörer. Unsere Minderheitskultur wird, quantitativ und daher auch qualitativ, kulturpolitisch immer unbedeutender. Das gilt erst recht für Israel, das uns Juden Sicherheit garantiert. Es wird aber in und von der Welt meistens als Ärgernis betrachtet. Ja, die Juden waren, sind und bleiben gefährdet. Außerhalb und innerhalb Israels.
Mit dem Historiker und Bestsellerautor sprach Philipp Peyman Engel.