Philip Roth, den viele für den bedeutendsten Schriftsteller Amerikas halten, hat sich stets dagegen gewehrt, mit seinen Romanfiguren identifiziert zu werden. Das hat ihm aber nichts genützt. In den Augen des Publikums war Roth stets Alexander Portnoy aus Portnoys Beschwerden, aber auch Nathan Zuckerman aus seinen Zuckerman-Romanen. Und natürlich auch David Kepesh, ein Lüstling und Narzisst, einer, der die Frauen benutzt und verachtet, einer, der sich selbst zuwider ist, aber auch ein Zyniker und ein bisschen eben auch ein Feigling.
Roth, dieser große Chronist der amerikanischen Wirklichkeit, war ebenso sympathisch oder unsympathisch wie all die alternden Herren in seinen Büchern der letzten Jahre, auch in seiner Erzählung Jedermann, in der er eindringlich das Leben als Kampf gegen die Sterblichkeit schilderte. Devise: »Das Alter ist ein Massaker.«
kraft Von seinen Büchern hat Philip Roth einmal gesagt, es gehe bei ihnen nicht um irgendwelche Syntax, sondern um »grobe Kraft«. Und als Sabbaths Theater 1995 herauskam und sein Autor den »National Book Award« gleich ein zweites Mal erhielt, schrieb er, Melville zitierend: »Ich habe ein boshaftes Buch geschrieben und fühle mich makellos wie ein Lamm ...«
Dabei ließe sich keineswegs sagen, dass es Roth mit seinen Kritikern besonders leicht gehabt hätte. Entsprechend schlug er zurück, warf den Rezensenten Dummheit vor, seine Bücher schlecht zu lesen, vor allem denen der »New York Times«: »Das sind sie schon, seit ich mich erinnern kann.«
Allein, Roth kämpfte auch an einer zweiten Front. Viele Juden in Amerika beschuldigten ihn der Unmoral und des Antisemitismus. In seinem Roman Verschwörung gegen Amerika schilderte Roth einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem nicht Franklin D. Roosevelt 1940 wiedergewählt, sondern der erste Atlantik-Überflieger, Charles Lindbergh, US-Präsident wird, ein erklärter Judenhasser, der dann einen Friedensvertrag mit Hitler schließt. Die Juden Amerikas werden in diesem Buch zu Opfern von Repressionen, während die jüdischen Protagonisten in seinen früheren Romanen stets verzweifelt versuchten, dem jüdischen Opfersein zu entkommen.
provokation Amerikanischer Antisemitismus? Nicht alle haben diese Provokation verstanden. Man verurteilte seine »unausgeglichenen Darstellungen jüdischen Lebens«, mäkelte an seiner »schmalen persönlichen Bildung« herum.
Und das war eben auch nicht ganz falsch. Jahrelang hat sich Roth mit den kleinen dreckigen Geheimnissen von Männern und Frauen beschäftigt, er trat als Seelenzerleger und Selbstverdoppler auf, der sich mit seinen obszön-grotesken Hervorbringungen im melancholischen Vatermord übte. Immer wieder tauchten bei ihm dieselben jungen Studentinnen und Psychoanalytiker in verschiedener Gestalt und mit wechselnden Namen auf.
Später kamen die sabbernden alten Männer hinzu, die sich mit Inkontinenz und Prostata herumschlagen und doch nicht auf Sex mit jungen Frauen verzichten wollen. So ein Buch war auch noch etwa Mein Mann, der Kommunist von 1999, wo uns der wandernde Jude Ahasver aber nicht mehr als literarisch-libidinöser Betthase, sondern als veritabler Agitator und Apologet des Marxismus vor die Augen tritt.
Roth war also zunächst vollauf damit beschäftigt, Widerstand gegen die frühe Prägung in einer traditionellen jüdischen Familie in New Jersey zu leisten. Das hat fast 40 Jahre gedauert, in denen er sich langsam, aber stetig von den Familienzwängen seiner Herkunft entfernte, ohne sie freilich jemals ganz abschütteln zu können.
postmoderne Aber irgendwann war die McCarthy-Ära dann vorbei, die USA waren jetzt ein Land, in dem ein Amerikaner, der zufällig auch Jude war, nicht mehr zu allem Ja und Amen zu sagen brauchte. Roth legte, sportlich gesprochen, einen enormen Zwischenspurt ein. Und so kam es, dass Philip Roth heute als Vorläufer der literarischen Postmoderne, aber auch als wichtigster Vertreter des jüdisch-amerikanischen Romans gilt.
Gut 30 Romane hat dieser Befreiungskampf hervorgebracht, eine Schlacht, die Roth mitunter zu verlieren drohte, dann aber am Ende virtuos für sich entschied. Seine Eltern, jüdische Kleinbürger, deren Vorfahren aus Osteuropa in die Staaten eingewandert waren, müssen mit dem schriftstellernden Sohn ihre liebe Not gehabt haben. Ihre vielen »typischen« Eigenarten des jüdischen Kleinbürgertums tauchen in den verschiedensten Variationen in seinen Büchern auf. Der exzessive Onanierzwang von Portnoys Beschwerden verursachte eine Menge Ärger. In New Jersey, wo Roth 1933 in der Stadt Newark geboren wurde, hatte niemand Verständnis für die vielen kleinen Ferkeleien, die sich der junge Roth herausnahm.
nestbeschmutzer Er galt als der Jude, der das eigene Nest beschmutzte, auch wenn dies in Form von Fiktion geschah. Seine Protagonisten wurden immer als Alter Ego des Autors verstanden, dessen jüdische Helden sich darauf einlassen, »Amerika durch Ficken zu entdecken«, wie es in Portnoys Beschwerden heißt.
Und doch wurde dieser Philip Roth überhäuft mit zahlreichen Auszeichnungen. Die Literatur, so heißt es in seinem Roman Mein Leben als Mann über den jüdischen Schriftsteller Tarnopol, die Literatur habe ihm den ganzen Schlamassel eingebrockt, also müsse ihm die Literatur da auch wieder heraushelfen.
Ergo verabschiedete sich Roth von den 80er-Jahren, als sich seine Romane Gegenleben oder Operation Shylock im Spiegelbild der eigenen Nabelschau zu verirren schienen – und wandte sich der amerikanischen Zeitgeschichte als Stoff zu. Roth entdeckte das »amerikanische Jahrhundert«, ließ das mitunter schrille Gespött über jüdische Identität hinter sich und begann mit der Arbeit an seiner amerikanischen Trilogie: Amerikanische Idylle, Mein Mann, der Kommunist und Der menschliche Makel.
Am Ende seiner Reise durch die amerikanische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg war er dann wieder bei sich angekommen, bei den Quellen der jüdischen Metaphysik, beim Zorn der alten Männer und bei der Erinnerung an erotische Ausschweifungen und der vergeblichen Hoffnung auf irgendeine Erlösung. So wie sein Mickey Sabbath, der, mit Kippa auf dem Kopf und eingewickelt in eine US-Flagge, auf die heilige Friedhofserde pisst.
Ist das »makellos wie ein Lamm«, wie der Autor schrieb? Nein, da würde man diesem ungemein produktiven Romancier schlicht Unrecht tun. Seine Bücher drehen sich im Grunde allesamt um das Schreiben, um das Judentum, auch um die Attraktivität nichtjüdischer Frauen.
suizidgedanken Irgendwann, als er etwa Mitte 50 war, soll Roth dicht vor dem Selbstmord gestanden haben. Aber dann rettete ihn sein Nathan Zuckerman in einer Art literarischen Exorzismus. Roth gelangte damals zum Bewusstsein einer Freiheit, die »man genießen kann, wenn der Egoismus sich erst einmal aus den Fesseln der gesellschaftlichen Angst« gelöst hat. Die autobiografische Wahrheit, so erkannte Zuckerman, in dem man auch Roth erkennen kann, ist nämlich erst verfügbar, wenn man sie erzählt.
Roth traf sich da mit Kafka, mit dem ihn sehr viel mehr verband, als er vielleicht zugegeben hätte: die komplexe Sprach- und Kultursituation, die frühe Distanzierung von der religiösen Tradition, die Erfahrung der »Gefangennahme« durch Mutter und Vater, das Leben im Schatten der jüdischen Diaspora.
Mein Leben als Sohn von 1991 gibt Auskunft, wie beherrschend die Rolle war, die seine jüdische Familie für Roth gespielt hat. Der übermächtige, aber todkranke Vater, der vom Sohn umsorgt wird, der Sohn, der in sorgenvoller Ungeduld den Schatten des Vaters nur mühsam erträgt. Roth hat sich immer wieder zu der Notwendigkeit bekannt, das Verhältnis von Privatleben und fiktionaler Doppelexistenz ständig neu zu überdenken. Deswegen all diese Selbstbesessenheit, diese Selbstaustreibung als »Suche nach Befreiung vom Selbst«.
Juden wie Nichtjuden fordert Roths Literatur zur wechselseitigen Reflexion ihrer Selbstbilder auf. Dabei enthielt sich der Autor jeder moralischen Bewertung. Er inszenierte sich selbst, schrieb mit und ohne Maske und wehrte sich mit kühner Intelligenz und großer Leidenschaft gegen Alter, Krankheit und Tod.
abschied Schließlich verabschiedete er sich als Schriftsteller von seinem Publikum. Er wolle über Literatur nicht mehr reden und schon gar keine mehr schreiben. Das Herz eines alten Mannes, so hat es der irische Lyriker William Butler Yeats formuliert, ist jünger als sein Körper. Aber über den alternden Shakespeare-Schauspieler Simon Axler heißt es in einem der letzten Romane von Philip Roth, Die Demütigung: »Er hatte seinen Zauber verloren … sein Talent war tot.«
Philip Roth starb am Dienstagabend im Alter von 85 Jahren an Herzversagen in einem New Yorker Krankenhaus.