Elias Canetti hasste den Tod und liebte die deutsche Sprache. Der 1905 als Kind spanischstämmiger Juden im bulgarischen Ruse geborene Türke verstand sich als Atheist. Religion war für ihn als Einwilligung ins Vergängliche ein Skandal. »Du sollst nicht sterben«, formulierte er 1942 sein erstes Gebot. Andere Notizen zeichnen den Literaturnobelpreisträger als egozentrischen Zeitgenossen.
Seine Bücher sollen »Zeit haben, sich ohne Kenntnis privater Umstände des Autors zu bewähren«, schrieb Canetti wenige Monate vor seinem Tod und verfügte: Erst 2024, 30 Jahre nach seinem Tod, darf das letzte Schriftstück in seinem Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich freigegeben werden. In der schweizerischen Stadt starb Canetti, am 14. August 1994, im Alter von 89 Jahren.
JÄHZORNIG Von vielen Zeitgenossen wegen seines Humors durchaus geschätzt, zeichnen jüngere Biografen auch die weniger sympathischen Seiten des Denkers auf: Jähzornig und machthungrig soll er gewesen sein, krankhaft eifersüchtig und gleichzeitig selbst ein hartnäckiger Fremdgeher; eine Giftspritze, wenn es ums Verhöhnen ehemaliger Geliebter und anderer ungeliebter Zeitgenossen ging. Klein, so scheint es, war Canetti nicht nur von Statur, und Stabilität in zwischenmenschlichen Dingen war nicht seine Stärke.
Den Tod hat er zeit seines Lebens gehasst. Vor 25 Jahren musste er sich mit ihm abfinden.
Rastlos scheint auch seine Kindheit, die durch zahlreiche Umzüge geprägt war. 1911 zog die wohlhabende sephardische Kaufmannsfamilie mit ihren drei Söhnen nach Manchester, nur um nach dem überraschenden Tod des Vaters nach Wien zu ziehen. 1916 siedelte sie nach Zürich und 1921 nach Frankfurt um. Zum Studium der Chemie kehrte Canetti zurück nach Wien. Mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich emigrierte er via Paris nach London, wo er 1952 die britische Staatsbürgerschaft erhielt.
In allem blieb er ein Europäer par excellence. »Heute, da der Atemschatten, unter dem wir leben, schwer auf Europa lastet, zittern wir zuerst um Europa«, sagt er in seiner Dankesrede für den Nobelpreis und wünscht sich »eine Zeit, die so segensreich wäre, dass niemand auf der ganzen Welt Grund mehr hätte, den Namen Europas zu verfluchen«.
SPRACHEN Vertraut wie die Wohnortwechsel waren dem Kosmopoliten die Wechsel von einer Sprache in die nächste. Neben dem judenspanischen Ladino sprach Canetti Englisch, Französisch, Bulgarisch, Türkisch. Die Sprache seiner Schreibe blieb jedoch stets Deutsch. Die deutsche Sprache sei seine Heimat, schrieb das Nobelpreiskomitee 1981.
Weil er Jude sei, werde Deutsch die Sprache seines Geistes bleiben, sagte Canetti. »Ich will ihrer Sprache zurückgeben, was ich ihr schulde. Ich will dazu beitragen, dass man ihnen für etwas Dank hat.«
Elias Canetti war ein Literat mit vielen Facetten. Jähzornig und machthungrig soll er privat gewesen sein, und krankhaft eifersüchtig.
Den heraufziehenden Faschismus beobachtete der Jude genau, erlebte neben den Großdemonstrationen nach der Ermordung Walther Rathenaus (1922) und den Arbeiteraufständen in Wien (1927) die Masseneuphorie bei Kriegsausbruch. Die Keimzelle von Masse und Macht war gelegt. Die Analyse zum Entstehen und Eigenleben von Menschenmassen wird Canetti später als sein Lebenswerk bezeichnen.
WERKE Philosophie, Psychologie, Soziologie, Ethno- und Anthropologie sowie ein bisschen Zoologie: Die Methodenvielfalt seiner Masse und Macht scheint symbolisch für das Schaffen Canettis. Von Romanen und Charakterskizzen über Dramen und Aphorismen zu Theaterstücken und Reiseeindrücken reichen die Genres.
Vieles, was Canetti in seiner langen Karriere schrieb, hat autobiografische Züge, so auch das eine Thema, das sein Denken und Wirken durchdringt: »Ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder.«
Sieben Jahre alt war Canetti, als der Vater plötzlich starb. Seine Mutter, seine Geliebte Friedl Benedikt, seine erste Frau Veza, sein geliebter Bruder Georges: Alle starben sie jung und verstärkten in dem Autor den Hass auf den Tod. »Ihn nicht zu besänftigen suchen durch Einschränkungen der Ablehnung und zeitweilige Segenssprüche.«
Leidenschaftlich schrieb Canetti gegen die Leere und den Zerfall, um den Tod zu besiegen.
JENSEITS Was macht es mit dem Menschen, dass er weiß, dass der Tod unausweichlich ist? Die Beschäftigung mit dieser Frage ließ in dem Atheisten das Interesse für Religionen und Glaubensformen gleichermaßen wie seine Abneigung gegen deren Vertröstung auf das Jenseits wachsen. »Das Kühnste im Leben ist, dass es den Tod hasst, und verächtlich und verzweifelt sind die Religionen, die diesen Hass verwischen«, schrieb er im Alter von 38 Jahren in sein Tagebuch.
Leidenschaftlich schrieb Canetti gegen die Leere und den Zerfall, um den Tod zu besiegen. An dem größten seiner Ziele mag er gescheitert sein. Mit seinem intensiven schriftlichen Nachdenken über Tod und Unsterblichkeit aber hat sich der Dichter ein Denkmal gesetzt.