Als Milton Glaser in den 30er-Jahren ein kleiner Junge war, war sein Viertel, die South Bronx, ein ganz anderer Ort als jetzt. Im heutigen Latino-Bezirk lebten viele jüdische Einwanderer wie seine Eltern, und das Leben war voller Politik. »Es war normal, dass man sich morgens einen Stapel Flugblätter geschnappt und sie an der U-Bahn-Station verteilt hat«, erinnerte sich Glaser vor wenigen Jahren.
Jüdisch zu sein und links zu sein war in diesen Zeiten in New York praktisch identisch, und dieses Milieu hat den großen Designer, der am vergangenen Wochen-ende im Alter von 91 Jahren starb, sein Leben lang geprägt. »Wenn ich mein Talent nicht dazu genutzt hätte, die Welt zu verbessern«, sagte Glaser 2008 in einem Interview, »dann wäre ich mir bis ans Ende meiner Tage wie ein Arschloch vorgekommen.«
Glaser hätte sich keine Vorwürfe machen müssen, wenn er in seinen letzten Tagen seines Lebens zurückgeblickt haben sollte. Sein Mentor Giorgio Morandi bescheinigte Glaser einmal, dass der Zeichenstift ganz unmittelbar die Ideen von Glaser auf das Papier brachte, ohne Umweg, ohne Reibungsverlust. Und diese Gabe hat Glaser stets dazu genutzt, »die Dinge ein klein wenig besser zu machen«, wie er einmal mit betontem Understatement sagte.
BERUFSWAHL Glasers Idealismus begann bei seiner Berufswahl. Es kam für ihn nicht infrage, ausschließlich Künstler zu werden. »Ich konnte mir nie vorstellen, etwas zu malen, was sich dann irgendjemand in sein Wohnzimmer hängt«, sagte er. »Ich wollte immer, dass meine Arbeit im öffentlichen Raum ist.«
Die bürgerliche Idee der Kunst als Selbstzweck war Glaser stets fremd, er wollte in der Welt etwas bewegen. So war klar für ihn, dass er sich an der Cooper-Union-Fachhochschule für angewandte Kunst einschreiben und sein Berufsleben der Gestaltung widmen würde.
Doch die Orthodoxie des damaligen Designbegriffs war ihm schon als Student zuwider. Glaser lag zwar auf einer Linie mit den Ambitionen des Bauhaus, die Kunst durch ihre Anwendung im Alltag zu demokratisieren. Doch die Mittel dazu waren ihm Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu eng, zu formelhaft geworden. »Wie viele rote Kreise und Quadrate kann man denn in seinem Leben zeichnen?«, fragte er einmal provozierend.
Glaser fehlte in der Strenge des modernen Designs die Emotion. »Die bedeutendsten Dinge passieren im Reich des Gefühls und des Ausdrucks«, sagte Glaser im Jahr 2018. Und so machte er es sich zur Aufgabe, das Gefühl wieder in die angewandte Kunst zurückzubringen. Ohne Gefühl, glaubte er, kann man nicht effektiv visuell kommunizieren.
Der Impuls, modernes Grafikdesign mit Gefühl aufzuladen, führte zum legendären Designstudio Push Pin, das Glaser 1954 mit einer Gruppe von Kommilitonen gründete. Die Arbeit von Push Pin wurde prägend für eine ganze Generation. Ihre Ästhetik wurde später mit der Hippie-Ästhetik der 60er-Jahre assoziiert und praktizierte Eklektizismus und Verspieltheit, lange bevor der Begriff der Postmoderne geprägt wurde.
POSTER Das ikonischste Produkt der Push-Pin-Jahre war zweifellos Glasers Bob-Dylan-Poster von 1966, das dem »Greatest Hits«-Album des späteren Nobelpreisträgers beigelegt war und bis heute die Wände von Hunderttausenden von Dylan-Fans ziert. Glaser beschrieb das Plakat als Kombination einer Duchamps-Silhouette mit islamischen Farben und Formen, die man später als pschychedelisch bezeichnen würde und die etwa die Gestaltung des Yellow Submarine-Films der Beatles beeinflusste. Doch genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ästhetik von Push Pin zu einem erkennbaren »Stil« wurde, verlor Glaser das Interesse daran. »Alles, was ein Stil ist, ist mir suspekt«, sagte er später. Glaser verließ Push Pin und gründete sein eigenes Studio. Gleichzeitig wurde er Herausgeber und Art Director des »New York Magazine«.
Das Magazin »New York« war bis dahin die Sonntagsbeilage der kränkelnden »New York Herald Tribune«, doch Glaser machte zusammen mit seinem Partner Clay Felker etwas ganz Neuartiges daraus. »Es war unsere Antwort auf den ›New Yorker‹«, sagte Glaser später. Doch anstatt wie der »New Yorker« die betuchte Oberschicht anzusprechen, wollten Glaser und Felker eine Community rund um Ideen und ein Lebensgefühl formen – ein typisch New Yorker Lebensgefühl jenseits von Oper, Theater und Edelrestaurants.
Das Magazin druckte Essays von Schriftstellern und preisträchtige Sozial-
reportagen. Es führte jedoch ganz im Sinne der angewandten Kunst auch jenen Servicegedanken ein, der bis heute für Stadtmagazine rund um die Welt charakteristisch ist. Das Magazin sollte, wie die Kunst, nützlich sein.
Glasers Handschrift zog sich durch das ganze Heft. Er gestaltete die Titel und illustrierte nicht selten die Artikel. Zudem schrieb er die Kult-Kolumne »The Underground Gourmet.« Dabei folgte er seiner Leidenschaft, in billigen, meistens ethnischen Restaurants zu essen, die »niemals eine Anzeige in einer Zeitschrift schalten würden«.
Die Kolumne war sowohl Ausdruck seiner egalitären Grundeinstellung als auch eine Liebeserklärung an sein New York – das New York der hart arbeitenden Einwanderer, die diesen wunderbaren Schmelztiegel geschaffen hatten.
KAMPAGNE Glaser sagte einmal zu New York: »Ich kann mich nicht von dieser Stadt abtrennen. Ich bin diese Stadt.« Als New York in den 70er-Jahren am Boden lag, bankrott und verwahrlost, blutete ihm das Herz wie kaum einem anderen. Die damalige PR-Kampagne der Stadt – dazu gedacht, die Bürger, die dabei waren, New York aufzugeben, wieder an ihre Stadt zu binden – war ihm deshalb eine Herzensangelegenheit.
Deshalb nahm er auch pro bono den Auftrag an, den Slogan »I love New York«, zu visualisieren. Es wurde jener Job, der zu seiner ikonischsten Arbeit führte.
Eine Woche lange experimentierte Glaser mit Typografien herum. Die Eingebung zu dem Logo, das heute Millionen von T-Shirts und Kaffeetassen ziert, kam ihm jedoch auf dem Rücksitz eines Taxis: ein einfaches Quadrat mit drei Zeichen unterschiedlichen Typs – einem Substantiv, einem Piktogramm, das die Liebe symbolisiert, und einer Abkürzung für einen Ort.
Das Logo wurde eines der berühmtesten Designs des 20. Jahrhunderts. Der Notizzettel, auf den Glaser es gekritzelt hat, liegt heute im Museum of Modern Art. Glaser hatte die richtige visuelle Sprache für den richtigen historischen Moment gefunden.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 legte Glaser, der mittlerweile alles von Restaurant-Interieurs bis zur linken Zeitschrift »The Nation« gestaltete, das Logo neu auf. Diesmal hieß es »I love New York more than ever« – Ich liebe New York mehr denn je. Das Herz war mit einem kleinen schwarzen Fleck versehen. In den vergangenen Tagen macht dieses Logo in der geplagten Stadt erneut die Runde und das nicht nur im Andenken an Milton Glaser. Noch im Moment seines Todes ist Glaser, der 1929 in der Bronx geboren wurde, hochaktuell.