Herr Professor Longerich, Hitler-Biografien füllen mittlerweile ganze Regalwände. Was kann man auf über 1000 Seiten Neues schreiben, was noch nicht bekannt war?
Es gibt nur wenige Biografien zu Hitler, die den aktuellen Wissensstand in der Historiografie wirklich widerspiegeln. Schließlich entwickelt sich die Forschung kontinuierlich weiter. Das hat auch zur Folge, dass unser Bild von Adolf Hitler gewissen Veränderungen unterliegt. Es bleibt nicht einfach statisch. Weitere Interpretationsversuche kommen zum Zug. So rückt mein Buch den Fokus weniger auf den Ideologen oder den Exponenten eines Systems. Vielmehr steht bei mir eher der handelnde Diktator im Mittelpunkt.
Sie schreiben, dass sich Hitlers radikaler Judenhass wohl erst nach dem Ersten Weltkrieg so richtig manifestierte. Woran machen Sie das fest?
Sein Antisemitismus in der Wiener Zeit war nur ein »Anti-« unter ganz vielen. Oder anders ausgedrückt: Hitler war damals sowohl antihabsburgerisch und antibürgerlich, antiklerikal, antisozialistisch als auch antisemitisch eingestellt. Das sollte ihn aber nicht daran hindern, jüdische Bekannte oder jüdische Geschäftspartner zu haben. Eigentlich deutet in dieser Zeit noch nichts darauf hin, dass seine Abneigung gegen Juden radikalisierte Formen annimmt. Inhaltlich entsprach seine Haltung weitestgehend dem, was in großen Teilen des kleinbürgerlichen Lagers damals Konsens war. Für sie alle war der Antisemitismus so etwas wie der Ersatz für eine nicht geleistete Gesellschaftsanalyse.
Der Antisemitismus gehörte im gesellschaftlichen Umfeld des jungen Hitler also zum guten Ton und war alles andere als eine Randerscheinung. Ab wann kippt diese Einstellung in den radikalen und eliminatorischen Antisemitismus, der letztendlich den Weg nach Auschwitz bereitete?
Der Ausgang des Ersten Weltkriegs und die Niederlage Deutschlands sind definitiv der Wendepunkt. Von nun an kommt dem Judenhass eine identitätsstiftende Funktion zu. Auf ihm basiert das folgenreiche Erklärungsmodell, warum Deutschland den Krieg verloren hatte und wer in der Wahrnehmung der politischen Rechten für die als Chaos empfundene Situation in den Jahren nach 1918 die Verantwortung trug. Der neue Antisemitismus und der mit ihm verschmolzene Antibolschewismus, aber auch die Kombination Antikapitalismus-Antisemitismus stehen für den Versuch, die Weltmächte mit den Juden zu identifizieren. Alle diese Ansätze und Deutungen beinhalteten gleichfalls politische Handlungsanweisungen und mündeten in einer Neudefinition des deutschen Volkes, in dem das sogenannte arische Blut zum alles bestimmenden Faktor mutiere.
Die Diskussion, ob Hitler nun ein »starker« oder »schwacher« Diktator gewesen sei, ist mehr als 40 Jahre alt. Der kürzlich verstorbene Historiker Hans Mommsen benutzte 1971 erstmals diese Etikettierung. Wie positionieren Sie sich in diesem Kontext?
Das Diktum vom »schwachen Diktator« ist natürlich sehr überpointiert. Mommsen selbst wollte damit wohl ein wenig die personenfixierte Tradition in der Geschichtsschreibung aufbrechen. Die Anhänger dieser Denkrichtung zielten damit auf die Annahme ab, dass ein moderner Despot wie Hitler unmöglich alle Richtlinien der Politik alleine hätte bestimmen können. Diese »strukturalistische« Deutung wurde zur dominanten These in der NS-Historiografie der vergangenen Jahrzehnte. Dabei verschwand aber die Figur Hitler zu sehr hinter dem Gewirr der Machtstrukturen des Dritten Reichs. Es geht mir mit meiner Biografie auch weniger darum, der einen oder der anderen dogmatischen Denkrichtung zu folgen. Mir war es wichtig, nun wieder der Person mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und sie stärker in den Vordergrund zu rücken.
Ihrer Biografie zufolge griff Hitler immer wieder sehr aktiv in die Politik des Regimes ein und bestimmte selbst kleinste Details. Auch sei er auf die Zustimmung seiner Politik nicht wirklich angewiesen gewesen. Inwieweit leistet eine solche Deutung dem Wunsch vieler Deutscher nach moralischer Entlastung Vorschub?
In der Tat hat Hitler in alle Politikbereiche stärker eingegriffen als bisher angenommen und sich persönlich um überraschend viele Details gekümmert. Er war mit einer enormen Machtfülle ausgestattet. Das heißt für mich aber nicht, dass dadurch die Deutschen in irgendeiner Form moralisch entlastet würden. Schließlich haben sie das Regime an die Macht gebracht und bis zuletzt getragen. Selbst wenn die Zustimmung zu Hitler schwankte oder am Ende abnehmend war – die Deutschen haben sich völlig konform zu der nationalsozialistischen Herrschaft verhalten und deshalb auch die Folgen seiner Politik mit zu verantworten.
Ihr Buch erscheint zu einer Zeit, in der die Komödie »Er ist wieder da« Erfolge feiert. Bereits vor mehr als 15 Jahren erschienen Walter Moers’ »Adolf, die Nazisau« sowie »Der Führer privat« von den Karikaturisten Greser & Lenz. Kann man von einem veränderten Umgang mit der Person Adolf Hitler sprechen, der nicht mehr vor allem auf die Skizzierung eines Dämons hinauslief, dem man erlegen sei?
Der Ansatz, die Figur in einen anderen Kontext zu stellen und damit zu verfremden, ist eigentlich nicht neu. Mir fällt spontan etwa Hans-Jürgen Syberbergs Hitler, ein Film aus Deutschland aus dem Jahr 1977 ein. Auf diese Weise werden Tabus aufgebrochen, ohne aber die historische Figur in irgendeiner Form zu exkulpieren. Sie konkurrieren natürlich nicht mit den Versuchen in der Forschung, weitere Persönlichkeitsmerkmale der Figur Hitler herauszuarbeiten und die einzelnen Schritte seines Handelns zu skizzieren.
Peter Longerich: »Hitler«. Biografie. Siedler, München 2015, 1296 Seiten, 39,99 €.
Das Gespräch führte Ralf Balke.
Peter Longerich ist Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und Direktor des dortigen Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History. Seit 2013 ist er zudem an der Universität der Bundeswehr in München tätig.