Fast alle Eltern – und nicht zuletzt die jüdischen unter ihnen – kennen diesen Zwiespalt: Sie wollen alles dafür tun, dass ihre Kinder glücklich sind. Gleichzeitig möchten sie, dass der Nachwuchs bestimmte Ziele erreicht und möglichst erfolgreich wird. So wächst mit dem Kind auch die Hoffnung, »dass etwas aus ihm wird«. Es kann Mütter und Väter unter Druck setzen, wenn der beste Kindergartenfreund bereits im Alter von drei Jahren Fahrrad fährt, das Nachbarsmädchen demnächst ein Cello-Konzert gibt oder gefühlt alle anderen Kinder außer den eigenen nach der Schule noch Akrobatikkurse, Reitstunden und Unterricht in Frühenglisch nehmen.
Trotzdem sollten Eltern entspannt bleiben. Denn jedes Kind ist anders, jedes Kind hat sein eigenes Tempo, in dem es sich entwickelt. Was aber bei jedem Kind ähnlich hat, ist dessen Verlangen, mit seinen Eigenheiten in der Welt zu bestehen. Ein Kind hat den inneren Drang, sich zu entwickeln. Es will wachsen und sich Fähigkeiten und Wissen aneignen. Seine Eltern können es dabei begleiten und unterstützen. Wie lässt sich diese Aufgabe am besten meistern?
Die folgenden fünf Tipps sollen Eltern Denkanstöße geben. Denn bei aller Liebe zum eigenen Kind geschieht vieles in dessen Entwicklung unabhängig von väterlichen und mütterlichen Handlungsmöglichkeiten. Als Grundlage für diese Tipps dienen verschiedene Studien und Erkenntnisse aus der Forschungsliteratur sowie aus einem Expertengespräch mit Bea Latal, Co-Abteilungsleiterin der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich und Professorin für Entwicklungspädiatrie an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.
1. Jedes Kind ist einzigartig
Jeder Mensch ist ein Unikat. Davon war der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo zutiefst überzeugt. Seine Forschungsarbeiten, unter anderem die von ihm über mehrere Jahrzehnte hinweg geleiteten Zürcher Longitudinalstudien zur kindlichen Entwicklung – sie gehören zu den umfangreichsten ihrer Art weltweit –, brachten ihn zu folgendem Schluss: Kinder kommen schon als individuelle Wesen auf die Welt und werden im Laufe ihres Lebens immer unterschiedlicher.
Jedes Kind hat seine ganz eigenen Verhaltensweisen, Eigenschaften und Interessen, die sich schon oft relativ früh im Leben zeigen. Durchschlafen, gesund essen oder der richtige Umgang mit Freunden: Auf einiges kann mit Erziehung reagiert werden, doch nicht auf alles. Für vieles gibt es zwar Richtlinien, an die sich Eltern halten können – beispielsweise, wie viel das Baby trinken soll oder ab wann der Schwimmunterricht empfehlenswert ist.
Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, in dem es sich entwickelt.
Aber diese Normvorstellungen oder fest überlieferten Konzepte entsprechen den meisten Kindern nicht, weil sie die individuellen Faktoren in der Entwicklung nicht berücksichtigen können. »Die kindliche Entwicklung ist einheitlich in der Abfolge der Entwicklungsstadien. Sie ist aber sehr vielfältig hinsichtlich des zeitlichen Auftretens und der Ausprägung bestimmter Verhaltensmerkmale«, schrieb Remo Largo in seinem 1993 erschienenen Standardwerk Babyjahre. Es gibt Kinder, die krabbeln zuerst und lernen danach das freie Gehen. Andere können zuerst gehen und krabbeln erst später. Wieder andere überspringen das Krabbeln gänzlich. Am Schluss gehen alle frei. Alles ist normal.
2. Gute Erziehung oder die 5 V
Was heißt überhaupt eine »gute Erziehung«? »Dafür gibt es keine einheitliche Empfehlung. Aber ausgehend von der modernen Entwicklungspädiatrie passt sich eine gute Erziehung immer an den Entwicklungsstand des einzelnen Kindes an«, erklärt Bea Latal, die sich in ihrer Forschung mit Neugeborenen und Kindern mit Risiko für Entwicklungsstörungen auseinandersetzt.
Die Erwartungen an ein Kind, sagt sie, müssen dessen Möglichkeiten angepasst werden. Innerhalb einer Familie ist jedes Kind ein Individuum. Das fordert von den Eltern laut Latal auch die permanente Auseinandersetzung mit dem Kind – und dass man spüren soll, wann der nächste Entwicklungsschritt kommt.
Dabei sei wichtig, dass Eltern die kindlichen Interessen begleitend aufnehmen, dem Kind offene Fragen stellen und Impulse für Interessen geben. »Das Wichtigste aber ist, wenn es den Eltern gelingt, den Kindern Geborgenheit zu geben.« Dieser Zustand von emotionaler Sicherheit entsteht, wenn Eltern und Bezugspersonen vertraut, verfügbar, verlässlich, verständnisvoll und voller Liebe sind. Das sind die fünf entscheidenden V – ein Ausdruck, den Oskar Jenni, ebenfalls Professor für Entwicklungspädiatrie und Latals Co-Leiter am Kinderspital Zürich, geprägt hat. »Die 5 V einzuhalten bedingt viel Geduld. Eltern zu sein ist genauso eine Reise wie die Metamorphose eines Kindes zum Erwachsenen«, ist Latal überzeugt.
3. Gute Eltern achten auf sich selbst
Gute Eltern sorgen auch für sich selbst, damit sie Begeisterung für die Welt, Selbstvertrauen und Liebe zu anderen entwickeln, aber auch den Umgang mit schwierigen Gefühlen hinbekommen. Das ist die Voraussetzung für eine Umgebung, in der Zuneigung, Vertrauen, Neugier, Begeisterung und Zuversicht gedeihen können. Eine solche Umgebung herzustellen und gegen die Widrigkeiten eines hektischen Alltags zu verteidigen, kann anspruchsvoll und kräftezehrend sein. Eine große Herausforderung besteht darin, das Kind weder zu über- noch zu unterfordern.
Das bedingt das Austarieren zwischen dem kindlichen Drang nach Autonomie und Selbstbestimmung und gleichzeitiger Anleitung und Kontrolle des Kindes seitens des Erwachsenen, also dem Kind nah zu sein, es aber nicht in Watte zu packen – darin sind sich Erziehungsforscher heute einig. Das bedeutet: Kinder brauchen auf jeden Fall Gelegenheiten, Erfahrungen mit und ohne die Eltern zu machen. Damit einher geht auch die Notwendigkeit, Kindern ihre Zeit zum Spielen zu lassen. »Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht« ist ein afrikanisches Sprichwort, auf das sich der Kinderarzt Remo Largo immer wieder bezogen hat.
4. Freiräume gewähren
Helikoptereltern, Curling-Eltern oder einfach nur jiddische Mamme – man kann es nennen, wie man will, am Ende kreisen diese Begriffe alle um den elterlichen Drang, das Kind ständig im Auge behalten zu wollen. Dieser Form der Überbehütung liegt die Angst zugrunde, dass das heranwachsende Kind nicht ohne die permanente Hilfe seiner Eltern auskommt. Dem Kind fehlen dadurch Erlebnis- und Erfahrungsräume.
»Wenn man das Kind nicht fliegen lässt, wird es auch nicht fliegen lernen«, so ein häufig zitierter Satz, mit dem auch die Zürcher Entwicklungspädiaterin Latal betont, wie wichtig es ist, dem Kind etwas zuzutrauen, damit es Zutrauen zu sich selbst.
Die amerikanische Familientherapeutin Wendy Mogel beschrieb bereits vor 20 Jahren, wie sie in ihrer Praxis moderne Eltern von umsorgten Mittelschichtkindern erlebt hat: »Von außen betrachtet wirkt ihr Familienleben perfekt. Die Eltern besuchen jede Schulaufführung und jedes Fußballspiel ihrer Kinder. (…) Sie kennen alle Freunde ihrer Kinder und die Berufe der Eltern. Wenn die Schulleistungen abfallen, organisieren sie Nachhilfe.« Dieses »overparenting«, wie es im Englischen heißt, könne allerdings Bettnässen, Essstörungen, eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS oder schwerwiegende Schulprobleme zur Folge haben.
Der elterliche Einfluss auf den Erfolg des Kindes ist kleiner, als man denkt.
Mogel kritisiert, dass diese Eltern sich – obwohl sie liebevoll, intelligent, einfühlsam und äußerst engagiert sind – in ihrer Erziehungsarbeit weitgehend auf ein Mikromanagement der wechselnden Stimmungen des Kindes beschränken und darüber das große Ganze der Erziehung aus dem Blick verlieren: dem Kind Werte zu vermitteln und es zu Resilienz und Selbstständigkeit anzuleiten.
Die Therapeutin rät daher zu einer Erziehung mit Fokus auf emotionale Stabilität, Widerstandsfähigkeit sowie Eigenständigkeit, orientiert an einem jüdisch-traditionellen Wertekanon. Sie befürwortet hierarchische Familienstrukturen, empfiehlt Eltern aber gleichzeitig mehr Zurückhaltung in der Erziehung.
5. Nicht perfekt ist perfekt
»Diese Vorstellung der perfekten jüdischen Mutter und gleichzeitig modernen Frau, die sich um die Kinder kümmert, arbeitet, die schönste Barmizwa organisiert und vielleicht noch für jeden Schabbes kochen möchte, haben viele jüngere Mütter im Kopf«, sagt Bea Latal. Das sei verdienstvoll, berge aber ein hohes Risiko für Erschöpfung.Gute Eltern wissen, dass es nicht möglich ist, perfekt zu sein. Sie sollten nicht in Selbstvorwürfen ertrinken, sondern entspannt mit dem eigenen Scheitern umgehen und versuchen, es bei nächster Gelegenheit besser zu machen. So sind sie den Kindern ein Vorbild und vermitteln auch, dass Fehler im Leben Platz haben dürfen, dass Konflikte entstehen, aber gelöst werden können. Wenn Eltern ihre Erziehung bestmöglich an die Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Kinder anpassen, zeigen sie dem Kind, dass es möglich ist, die eigene Haltung zu revidieren.
»Widersprüche gehören zur Erziehung«, unterstreicht Entwicklungspädiaterin Latal. Manchmal nicht richtig zu entscheiden, komme vor – und das Kind lerne, dass sich seine Eltern nicht für vollkommen halten, sich aber bemühen, gute Eltern zu sein. »Je nach Alter des Kindes ist es absolut zulässig, mit ihm über wichtige Fehler zu sprechen.« Regeln und Prinzipien sind ebenso Teil der Erziehung wie das Wissen, dass sie nie komplett umgesetzt werden können, da sich Vorstellung und Realität unterscheiden.
In Bezug auf Erziehung gibt es heute viele Haltungen, und die meisten davon polarisieren. Welchen Weg Kinder am Ende selbst einschlagen, können Eltern nicht vorhersagen – und schon gar nicht bestimmen.
So ist auch der Einfluss, den Eltern auf den Erfolg ihrer Kinder haben, letztlich geringer als angenommen, darin ist sich die moderne Entwicklungspädiatrie heute einig. Was Eltern jedoch tun können, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden: Prioritäten im Leben neu zu setzen. Denn das Kostbarste, was Eltern ihrem Kind geben können, ist Zeit.