Als Schriftstellerin fühle sie sich von Konstellationen angezogen, in denen die Lage kippt, erklärte Yasmina Reza einmal. »Von Personen, die entgleisen, gegen ihren Willen und ihre Absicht.« In ihrem letzten Buch Glücklich die Glücklichen deklinierte sie das exemplarisch durch und führte in kurzen Alltagsszenen die Beziehungslügen ihrer Protagonisten ad absurdum.
Ob im Supermarkt, im Auto oder in der eigenen Wohnung: Sobald die Paare nicht mehr beobachtet werden, fällt die Maske, und das gerade noch zur Schau gestellte Wohlergehen schlägt um in bösen Hass.
Leerstelle Im neuen Buch Babylon verhält sich das genauso. Es ist durchaus denkbar, dass Yasmina Reza die Szene für den Vorgängerroman konzipiert hat, bevor sie sich dazu entschloss, sie auszuarbeiten und einen eigenen Roman daraus zu machen. Elisabeth ist Patentingenieurin im Institut Pasteur und hat, so fürchtet sie, mit 62 die besten Jahre schon hinter sich. Ihr Ehemann Pierre ist für sie ein »netter Kerl«, mehr nicht. Ihr Leben empfindet sie als eine große Leerstelle.
Vielleicht geht sie deswegen mit ihrem Nachbarn Jean-Lino gelegentlich spazieren oder am Eck einen Espresso trinken. Eines Tages lädt sie – nur weil ihr für das geplante Frühlingsfest Stühle fehlen – Jean-Lino und dessen Frau Lydie ein. Wer kann schon ahnen, welch grauenvollen Verlauf der Abend nimmt!
Einmal mehr führt Reza die Welt als Bühne vor, auf der die Menschen bloß eine Rolle spielen. Man denkt schon, das war’s, es handle sich um eine Partystudie wie bei Edward St Aubyn, die das oberflächliche Gerede karikiert. Dann aber ist das Fest vorüber und die Leute gehen nach Hause. Elisabeth und ihr Mann wollen zu Bett gehen, als es an der Haustür klopft. Ihr Nachbar Jean-Lino steht davor und teilt ihnen mit, dass er seine Frau getötet hat.
Schma Israel Was tun? Gemeinsam machen sie sich in der Wohnung ein Bild von den Vorgängen und lassen den Nachbarn allein zurück, nachdem er versprochen hat, selbst die Polizei zu rufen. Während Pierre betrunken ins Bett sinkt und einschläft, ist Elisabeth hellwach. Also geht sie noch einmal zu Jean-Lino, der gerade das Schma Jisrael gesprochen hat. Ob sie ihm nicht helfen könne, die Leiche zu beseitigen, fragt er sie. Soll sie?
Seit ihrem Debüt Gespräche nach einer Beerdigung (1987) hat es die 1959 geborene Reza in Stücken wie Kunst (1994) oder Der Gott des Gemetzels (2006) immer wieder verstanden, das Tragische ins Groteske kippen zu lassen. So ist sie zur meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin geworden. Mühelos ließe sich auch ihr neuer Roman als munteres Kammerspiel auf die Bühne bringen. Doch auch als Roman funktioniert die Geschichte – einige wenige dramaturgische Schwächen ausgenommen – perfekt. Denn hinter dem kultivierten Verhalten der Charaktere tun sich Abgründe auf.
Der verirrte Jean-Lino kommt – wie so viele ihrer Figuren – aus einem durch und durch bürgerlichen Milieu, dem auch Reza selbst entstammt. Die gute Erziehung aber hindert Jean-Lino nicht daran, seine Frau zu erwürgen, bloß weil Lydie in ihrer Wut den Kater getreten hatte, weil wiederum er sich zuvor auf der Gartenparty vor allen Gästen über ihre Tierliebe lustig gemacht hatte und darüber, dass sie nur Hühner aus Freilandhaltung isst (»Ist das Bio?«).
»Wenn ein Ehepaar sich streitet, dann dienen Meinungen oft als Vorwand«, sagt Yasmina Reza. Genauso verhält es sich auch in Babylon. Der Anlass ist eigentlich beliebig und nichtig. Der Kontrollverlust aber fatal.
Yasmina Reza: »Babylon«. Carl Hanser, Berlin 2017, 224 S., 22 €