Wie hat alles angefangen? Wie kam es zur Gründung der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden? Michael Hurshell, ihr künstlerischer Leiter, beantwortet diese Frage gern. Der Dirigent, 1959 als Sohn eines amerikanischen Opernsängerpaars in Wien geboren, lebt seit 2002 in Dresden. Damals gab es noch das grenzüberschreitende Musikfestival »Dreiklang«, das künstlerische Begegnungen der Nachbarländer Sachsen, Polen und Tschechien ermöglichte.
Als Hurshell 2004 eingeladen wurde, mit der Slowakischen Philharmonie in Hoyerswerda ein Programm mit unbekannter und doch publikumswirksamer Musik zu dirigieren, schlug er Hollywood-Filmsuiten vor. Dabei bemerkte er, dass die Komponisten Franz Waxman und Erich Wolfgang Korngold auf der Flucht vor Hitler in die USA gekommen waren. Sie reüssierten in Hollywood, gerieten als Schöpfer von Konzertwerken und Opern aber in Vergessenheit.
entdeckungen Nach diesem Konzert entstand bei Michael Hurshell der Wunsch, Werke dieser und anderer vergessener und verdrängter jüdischer Komponisten wiederzuentdecken. Zwar gab es bereits die Berliner Gesprächskonzerte des Vereins »musica reanimata« und die Jüdische Kammerphilharmonie Recklinghausen, die sich ebendieser Aufgabe stellten.
Da aber in Sachsen vergleichbare Initiativen fehlten, kam es im Jahr 2007 zur Gründung der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden. Unterstützung erhielt Hurshell von Claus-Dieter Heinze, einem pensionierten Manager, der sich schon für den Bau der neuen Dresdner Synagoge engagiert hatte und sich nun um die Finanzierung und Organisation des Orchesters kümmerte.
Kein Geringerer als Gottfried Semper hatte die Dresdner Synagoge entworfen, die am 8. Mai 1840 eröffnet, aber während der Pogrome des 9. November 1938 in Brand gesteckt wurde. Genau 60 Jahre später folgten die Spatenstiche für die neue Synagoge. Am 9. November 2001 wurde sie als erster Synagogenneubau Ostdeutschlands eröffnet. Dieses moderne
fensterlose Gebäude, das nur von außen streng und abweisend wirkt, sollte auch die Heimat des neuen Streicherensembles werden.
Experiment Michael Hurshell hatte ursprünglich gehofft, dafür wie bei der Kammerphilharmonie Recklinghausen ausschließlich jüdische Musiker gewinnen zu können. Da in Dresden aber nur wenige von ihnen lebten, bezog er auch nichtjüdische Mitglieder der großen Orchester sowie Hochschulabsolventen ein. Obwohl zu den 23 Musikern seines Ensembles nur wenige Juden gehören, hielt er an dem Namen Neue Jüdische Kammerphilharmonie Dresden fest. Dies ist für Hurshell ein politisches Statement. »Schließlich gehören auch zum FC Bayern München nicht nur waschechte Bayern.«
Der erste Auftritt am 9. November 2007 war noch ein Experiment. Die gute Resonanz führte dann jedoch zu der Entscheidung, ab Mai 2008 regelmäßig Konzerte durchzuführen. Zu ihnen kamen außer den Gemeindemitgliedern bald auch andere Gäste. Hurshell ist diese Öffnung wichtig, denn er möchte die während der Hitlerdiktatur diffamierten Komponisten nicht erneut in ein Ghetto verbannen, sondern einem breiteren Publikum zugänglich machen.
Um Eingang ins Repertoire zu finden, müsse ihre Musik immer wieder gespielt werden – nicht etwa aus Mitleid, sondern allein wegen der musikalischen Qualität ihrer Werke. Der Dirigent tritt deshalb gerne auch außerhalb der Synagoge auf. Obwohl er sich in Konzertsälen am wohlsten fühlt, meint er, dass jede Synagoge ein kultureller Ort sein sollte.
Pegida Aus den liberalen Synagogen der USA, wo er lange lebte, ist er fließende Übergänge zwischen geistlicher und weltlicher Kunst gewohnt. Er freut sich auch über das wachsende Interesse an den Schülergesprächskonzerten, die seit 2012 regelmäßig in der Synagoge sowie an Schulen stattfinden. Nur mit solcher Aufklärungsarbeit kann man Pegida entgegentreten, meint er.
Hurshell meidet den problematischen Begriff »jüdische Musik« und erinnert daran, wie stark die verfolgten jüdischen Komponisten in der deutschen Tradition verwurzelt waren. Manche Teile des Repertoires findet er im direkten Kontakt mit Nachfahren der Verfolgten, etwa bei den Kindern von Erich Zeisl und Franz Waxman. Nachdem er vom Schicksal des Prager Komponisten Hans Winterberg gehört hatte, nahm er Kontakt zu dessen Enkel auf. Das Notenmaterial, das er auf diese Weise erhält, ist manchmal vergilbt, weil es seit Jahrzehnten nicht verwendet wurde. Oder es sind Manuskripte von Kompositionen, die noch nie öffentlich erklangen.
Obwohl manche der NS-verfolgten Komponisten sehr avancierte Musik geschaffen haben, bevorzugt Hurshell ein postromantisches Repertoire, weil es ihm eine direkte Kommunikation mit den Zuhörern ermöglicht. Nicht selten hat er zu diesem Zweck auch Streichquartette für Streichorchester bearbeitet.
israel Als die Kammerphilharmonie im vergangenen Herbst zwei Konzerte in Israel spielte, stand ein Streichquartett-Satz von Alexander von Zemlinsky auf dem Programm, vor allem aber die 1948 komponierte Symphonische Serenade von Erich-Wolfgang Korngold, die noch nie in Israel zu hören gewesen war. Dieses von der Sächsischen Staatskanzlei geförderte Gastspiel stieß bei Publikum und Presse auf ein großes Echo und gehört zu den Höhepunkten der Arbeit der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden.
Wenn sie am 29. Mai, wie schon 2012, wieder im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele in der Neuen Synagoge auftritt, stehen die genannten Kompositionen von Zemlinsky und Korngold erneut auf dem Programm. Der in Berlin lebende israelische Bratschist Itamar Ringel spielt außerdem Paul Hindemiths »Trauermusik« für Bratsche und Streichorchester sowie als sächsische Erstaufführung das 1940 entstandene Bratschenkonzert von Leo Smit.
Dieser 1900 in Amsterdam geborene Komponist, der stark von französischen Einflüssen geprägt war, wurde 1943 im KZ Sobibor ermordet. Seine Musik muss in Deutschland erst noch entdeckt werden. Es ist gut, dass die Neue Jüdische Kammerphilharmonie Dresden mit ihren inzwischen fast 60 Konzerten zu diesen Entdeckungen beiträgt.
Das vollständige Programm der Dresdner Musikfestspiele:
www.musikfestspiele.com/de/musikfestspiele