Stellen Sie sich vor, nach Ihrem Tod dürften Sie Ihr Leben noch einmal leben, doch diesmal finden alle Ereignisse in wohlgeordneter Reihenfolge statt: Sie schlafen 30 Jahre lang, stehen 18 Monate Schlange, leiden 27 Stunden unter heftigen Schmerzen, um danach für immer davon befreit zu sein. Oder Sie leben das gleiche Leben noch einmal, nur diesmal rückwärts, beginnend mit der Auferstehung aus dem Grab und endend mit der Rückkehr in den Mutterleib. Oder Sie stellen fest, dass Sie nur ein Automat waren, den eine außerirdische Spezies konstruiert hat, um Bilder vom Planeten Erde aufzunehmen. Oder Sie begegnen Gott, doch der ist keineswegs allmächtig, womöglich weiß er gar nichts von uns Menschen.
40 solcher Gedankenexperimente hat David Eagleman in seinem literarischen Debut Sum. Forty Tales of the Afterlives angestellt, das auf Deutsch unter dem Titel Fast im Jenseits. Oder warum Gott Frankenstein liest soeben als Taschenbuch erschienen ist (Berlin-Verlag, 8,95 €). Nicht alle sind philosophiegeschichtlich neu, neu ist jedoch der erfrischende und satirische Zugang. Die Kritiker von der New York Times bis zum Time Magazine überschlugen sich vor Begeisterung, Stars wie Nick Cave und Jarvis Cocker lasen die Geschichten als Hörbuch, der Avantgarde-Popper Brian Eno komponierte eine Partitur dazu.
multitalent Der junge Autor (Jahrgang 1971) ist kein unbeschriebenes Blatt: Sum ist auch die Frucht von dessen langjähriger Arbeit als Neurowissenschaftler. Auf diesem Gebiet hat David Eagleman es weit gebracht: Er leitet das »Labor für Wahrnehmung und Handlung« am Baylor College, einer medizinischen Hochschule in Houston/Texas. Eagleman hat sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf den Gebieten der Zeitwahrnehmung, der Synästhesie und der optischen Täuschungen hervorgetan. In einem Experiment etwa ließ er Freiwillige von einem 150 Meter hohen Turm herabspringen, um herauszufinden, wie sich ihre Zeitwahrnehmung während des Fallens verändert.
Synästhetiker nehmen zum Beispiel Töne oder auch abstrakte Formen als Farben wahr. Eagleman entwickelte einen Online-Selbsttest, mit dessen Hilfe man herausfinden kann, ob man synästhetische Wahrnehmungen hat (www.synesthete.org). Außerdem steht Eagleman der von ihm gegründeten »Initative für Neurowissenschaft und Recht« vor. Auf regelmäßigen Konferenzen diskutieren Juristen, Psychologen, Neurowissenschaftler und Ethiker darüber, was die Erkenntnisse der Gehirnforschung für unser Rechtssystem bedeuten – etwa ob der Begriff der Willensfreiheit noch tragfähig ist und somit in Gerichtsverfahren noch von der Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen werden kann. Als wäre das alles noch nicht genug, hat Eagleman auch noch einen Wissenschaftspreis ins Leben gerufen: den Eagleman-Preis für Mathematik und Physik.
wurzeln Bevor er sich der Literatur zuwandte, widmete sich der als Sohn eines Arztes und einer Biologielehrerin in New Mexico geborene Eagleman in seiner knapp bemessenen Freizeit der Ahnenforschung. Er erforschte den Stammbaum seiner Familie, dessen Wurzeln nach Osteuropa zurückreichen. Etwa um 1900 wanderten die Brüder Morris, Pinchus und Abraham Igelmann aus Polen in die USA ein, wo sie ihren Nachnamen erst zu Egelman, später zu Eagleman anglisierten. Die meisten Mitglieder des mütterlichen Zweiges – der Familie Dortort, die in Galizien und Ungarn lebte – wurden während des Holocaust ermordet. Einem Teil gelang es, in die Schweiz, nach Frankreich und später in die USA zu emigrieren. Über sein Interesse an der Genealogie sagt Eagleman: »Ahnenforschung hat für Juden eine andere Bedeutung als für Nichtjuden. Und unsere größten Hindernisse rühren daher, dass so viele Dokumente und Zeugnisse in den antisemitischen Feuersbrünsten des vergangenen Jahrtausends zerstört wurden.«
Freiheit Zu seinem neuesten Buch wurde Eagleman von einem Rabbi inspiriert, den er vor zehn Jahren fragte, ob Juden überhaupt an ein Leben nach dem Tode glauben. Der Rabbi antwortete: »Frag drei Juden, und du erhältst drei Antworten.« Eagleman war beeindruckt von der geistigen Freiheit, die sich für ihn in diesem völligen Fehlen eines Dogmas ausdrückte. Durch sein Nachdenken über das Jenseits ist er aber nicht religiös geworden: »Die Wissenschaft ist immer noch unser erfolgreichster Zugang zu den ungeklärten Rätseln unserer Welt«, betont er. Was ihm aber mehr und mehr fragwürdig geworden ist, das ist die Gewissheit, mit der so viele Vertreter sowohl der Wissenschaft als auch der Religionen ihre Überzeugungen vortragen. Auch die »neuen Atheisten« wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens sieht Eagleman kritisch. »Sie erwecken den Eindruck, als könne Wissenschaft Gewissheiten liefern«, gibt er zu bedenken. Doch das sei keineswegs der Fall. »In der Quantenmechanik gibt es etwa die Ungewissheit, ob die damit beschreibbare Realität aus Wellen oder aus Teilchen besteht.« Dennoch ist die Quantenmechanik erfolgreich – sie »stimmt« also trotz dieser Ungewissheit.
Eagleman will mit seinen Denkexperimenten dazu anregen, auch andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen als die, von denen man ohnehin schon überzeugt ist. Zur Zeit denkt er darüber nach, eine neue Denkrichtung zu begründen: den Possibilianismus (von lat. possibile = möglich). Ohne Augenzwinkern will er sein philosophisches Engagement aber nicht verstanden wissen: »Natürlich ist keine meiner Geschichten ernst gemeint, es sind lustige und interessante geistige Übungen.« Doch er fügt hinzu: »Die geistige Übung als solche – die meine ich schon ernst.«