1933 beschloss die NS-Führung einen Boykott jüdischer Geschäfte, der am 1. April beginnen sollte. Der Boykott müsse, hieß es im Aufruf der NSDAP, »bis in das kleinste Bauerndorf hineingetragen werden, um besonders auf dem flachen Lande die jüdischen Händler zu treffen«. Überall in Deutschland standen am Samstag, dem 1. April, SA-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern. Obwohl die Regimeführung immer wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Disziplin vonstattengehen solle, brach die Gewalt an etlichen Orten auf.
In Berlin konzentrierte sich der Boykott auf die Innenstadt. »Beinahe alle Geschäfte zwischen dem Wittenberg-Platz und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zu beiden Seiten der Tauentzienstraße, tragen große und kleine Boykott-Plakate«, schrieb der Berliner Börsen-Courier. SA-Trupps beschmierten die Schaufensterscheiben mit Davidsternen und antisemitischen Parolen. Ein Amerikaner, berichtete die Times, der versucht hatte, das Kaufhaus Wertheim zu betreten, wurde von SA-Posten zurückgestoßen und als »verdammter Hundekopf« beschimpft. Nur fest entschlossene Kunden gelangten an diesem Tag in die Läden und Cafés Unter den Linden und am Kurfürstendamm. Um die boykottierten Geschäfte sammelten sich große Menschenmengen, die lebhaft miteinander diskutieren.
Gewissheit Keineswegs traf der Boykott auf einhellige Zustimmung. Außenpolitisch war er ein Fehlschlag, weil er den Eindruck von den Judenverfolgungen in Deutschland bestätigte. Und auch innenpolitisch erwies er sich als wenig erfolgreich, weil offenkundig zahlreiche Deutsche die Aktion missbilligten, zumal ja auch nichtjüdische Angestellte in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Doch darf die öffentliche Markierung als »jüdisches Geschäft« nicht unterschätzt werden. Für deutsche Juden bedeutete der Boykott am 1. April eine tiefe, erschütternde Erfahrung. Sie erleben den Zusammenbruch von Sicherheit und der bisher selbstverständlichen Gewissheit, in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben. Victor Klemperer fühlte sich ins Mittelalter versetzt: »Ich habe mich wahrhaftig immer als Deutscher gefühlt«, notierte er in seinem Tagebuch. »Und ich habe mir immer eingebildet: 20. Jahrhundert und Mitteleuropa sei etwas anderes als 14. Jahrhundert und Rumänien. Irrtum.«
Verfolgung Der Journalist und engagierte Zionist Robert Weltsch warb in einem später immer wieder zitierten Artikel in der Jüdischen Rundschau vom 4. April 1933 unter der Überschrift »Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!« dafür, die Verfolgung und Entehrung in Selbstbewusstsein zu wenden.
Weltsch und viele andere konnten nicht ahnen, welche mörderische Verfolgung ihrer noch harrte. Doch immer wieder setzten sich Juden zur Wehr, taten alles, um ihre Würde zu bewahren. Es sei ein »Wort des Trotzes gewesen, das uns heute zu hohl und pathetisch klingt«, sagte Weltsch nach dem Krieg, der 1938 nach Palästina emigriert war. »Aber damals gab es dem tiefen Bedürfnis Ausdruck, sich in der Erniedrigung zu behaupten.«