Neujahr

»En’ guda Rutsch!«

Eigentlich haben wir dort nichts mehr verloren. Wir sind in der Provinz geboren, aufgewachsen und dann abgehauen – nach München, Tel Aviv und Berlin. Nur meine Mutter ist irgendwie in diesem Dorf hängen geblieben. Zu Rosch Haschana kommen meine Brüder und ich wieder nach Hause.

Es beginnt damit, dass ich versuche, dem schwäbischen Bäcker zu erklären, dass wir den Mohnzopf ausnahmsweise mal rund und nicht gerade benötigen. Spätestens wenn er betont, dass »des dann extra koscht’, weil mehr Teig drin steckt«, weiß ich, dass er begriffen hat, was ich will. Der Metzger legt die zerhackten Kalbsfüße für die Gallerette, eine koschere Version der Schweinskopfsülze, bereit und rühmt sich damit, dass er sie extra nicht neben dem Schwein gelagert hat.

Silvester Im Laden nebenan bestelle ich einen Rosenstrauß mit einem Apfel in der Mitte. Wenn ich die Blumen abhole, kommt mir die Floristin entgegen: »Ach, ihr feiert wieder Silvester, gell? Deine Tante war heute auch schon da.« Auf dem Heimweg besuche ich meinen längst pensionierten Mathelehrer, ein Hobbyimker. Das Glas Honig reicht bei uns für ein ganzes Jahr. Zum Abschied wünscht er mir »en’ guda Rutsch«. So sagt man das auf Schwäbisch, und so geht das jedes Mal. Das Dorf hat eine Schule, zwei Kirchen, drei Kreisverkehre und von jüdischem Leben keine Spur.

Abends zu Hause streiten wir darüber, ob Krepplach genauso rund sind wie Mazze-Knödel, essen den Honig, obwohl ihn keiner mag, müssen aufpassen, dass der Granatapfel nicht die Tischdecke versaut, und spätestens wenn meine Mutter den gekochten Fischkopf auf den Tisch stellt, wird meiner Cousine übel, und sie verlässt den Raum. So ist es, seit ich denken kann, und »so muss das immer sein«, meint meine Mutter, »sonst wird’s kein mazeldiges Jahr«.

Leeor Engländer (30) ist Kolumnist der Tageszeitung »Die Welt«. Seine Kolumne »Schmonzes« erscheint alle 14 Tage montags.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025