Integration ist ein Schlüsselbegriff gegenwärtiger Debatten: Im 19. Jahrhundert hieß das Assimilation, und die Geschichte der Juden in Deutschland ist auch die Geschichte der Debatte, wie weit die Assimilation an die Gesellschaft gehen kann. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Mainstreamgesellschaft in Deutschland ihre ersten Erfahrungen mit Integration mit der jüdischen Community gemacht hat. Doch ließ sie diese Community für diese Erfahrung einen fürchterlichen Preis bezahlen.
Was Juden in Deutschland sind, definiert seitdem der Blick der Mehrheit, der in den Juden immer nur die Opfer der Schoa erkennen will und von jedem Juden permanent erwartet, dass die Schoa-Geschichte seiner Familie zur läuternden Erbauung der Mainstreamdeutschen bereitgehalten wird. »Aber warum spielen wir hier eigentlich noch mit?«, fragt der junge Lyriker und Antisemitismusforscher Max Czollek.
Debatte Gemeinsam mit der Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann hat er nun einen Kongress initiiert, der Ausstiegsstrategien aus diesem neurotischen Szenario diskutiert: »Desintegration. Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen« findet vom 6. bis zum 8. Mai im Berliner Maxim Gorki Theater statt, wo Salzmann die Studio-Bühne leitet. Doch nicht nur deshalb ist das Theater der passende Ort für eine solche Debatte. Seit Shermin Langhoff vor zwei Jahren die Intendanz übernahm, wird hier Theater für eine postmigrantische Gesellschaft gemacht: also ein Theater, das die Prämissen der »Leitkultur« durch Narrative und kulturelle Erfahrungen derer erweitert, die Nachkommen der neu Dazugekommenen sind.
Jetzt geht im Gorki also eine dritte jüdische Nachkriegsgeneration mit einem Revisionsversuch der jüdischen Nachkriegsidentität an den Start. Drei Tage lang sollen in 13 Veranstaltungen der »Exorzismus der deutschen von der jüdischen Seele« versucht und Fremdkonstruktionen der eigenen Identität aufgelöst werden. Das Motto »Desintegration« ist also durchaus buchstäblich gemeint: als Aufforderung zur Emanzipation.
Identität Neben der deutschen Opferprojektion ist die jüdische Identität in Deutschland für Czollek stark von Zuwanderung geprägt, zuletzt durch diejenigen, die in den 90er-Jahren aus der Sowjetunion kamen. Seitdem wurde auch der Sieg über Nazideutschland in den jüdischen Gemeinden gefeiert – ein Paradigmenwechsel in der jüdischen Gedenkkultur nach 1945, die um Termine wie den 9. November oder den Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes strukturiert war.
In jüngster Zeit gibt es nun eine Einwanderungswelle junger Juden aus Israel. »Wenn ich aus dem Kongress herausgehe und nicht mehr weiß, was Juden in Deutschland sind, dann haben wir etwas bewegt«, sagt Czollek. »Wir jungen Juden wollen uns nicht mehr um die unsichtbare Mitte einer Dominanzkultur herum organisieren, sondern jüdische Identität in Deutschland neu denken.«
Das komplette Program unter www.gorki.de