Den langen ersten Winter der Corona-Pandemie erlebte Maria Stepanova – wie der überwältigende Teil der Menschheit – als Ausnahmezustand, als Insel im normalen Fluss der Zeit, auf der plötzlich die vertrauten Gesprächspartner fehlten. Warum also nicht auf die Suche gehen nach den inneren Stimmen?
Und tatsächlich gleicht Stepanovas neues, in der Zeit der pandemischen Isolation entstandenes Buch Winterpoem 20/21 einem Gespräch mit allerhand Figuren, die der Autorin im Kopf herumspukten – angefangen bei Ovid, dessen Exilerfahrung sie auf die eigene Situation überträgt, bis hin zum Expeditionsbericht eines Seemanns, der auf Nowaja Semlja strandet.
Es ist bitterkalt, sogar die Worte gefrieren im Frost, sodass sie nicht mehr ans Ohr des Gegenübers dringen – erst bei Tauwetter, so spinnt Stepanova dieses wunderbare Gleichnis im Laufe des Winterpoems fort, befreien sie sich aus der Erstarrung und werden alle gleichzeitig hörbar. Das Poem hebt an zum Stimmenkonzert.
EXIL Die russisch-jüdische Lyrikerin Maria Stepanova zählt zu den bedeutendsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur. Das Exil, das sie im Winterpoem noch als Rückzug ins eigene Innere beschreibt, hat in der Zwischenzeit eine klare politische Bedeutung erlangt: Als Fellow des Wissenschaftskollegs lebt und arbeitet sie derzeit in Berlin. Vor allem aber ist sie – die Putins Herrschaft bereits seit geraumer Zeit anprangert – eine scharfe Kritikerin des russischen Einmarschs in der Ukraine.
»Der russische Staat versetzt uns tief in archaische Zeiten zurück«, sagte sie jüngst in einem Interview mit dieser Zeitung. Auf der Leipziger Buchmesse wird Stepanova nun mit dem Buchpreis für Europäische Verständigung geehrt.
Ihr Winterpoem dokumentiert die Ruhe vor dem Sturm – eine Zeit der erzwungenen, in einem existenzialistischen Sinne erfahrenen Zurückgeworfenheit auf das eigene Selbst, in der sich die Vorahnung auf das Kommende, auf den Krieg, allerdings schon unheilvoll aufstaut. Die Unruhe betrifft sogar die eigene Zunft, wenn sie den Verfassern eitler Besinnungslyrik »eisige Jamben« entgegenschleudern will.
Eis und Schnee, Kälte und Frost, das sind Stepanovas Leitmetaphern im Winterpoem. Selbst der Wein ist gefroren, er steht ohne Krug auf dem Tisch, man muss sich ein Stück herausbrechen. So kantig und rau geht es mitunter zu in diesen Gedichten, die sich im Grunde zu einem einzigen Langgedicht fügen, das Prosapassagen ebenso umfasst wie in der deutschen, schlichtweg bestechend souveränen Übertragung durch Olga Radetzkaja einige Originalpassagen in kyrillischer Schrift.
Im Übergang vom Pandemie-Winter zum Frühling schlägt die Autorin freilich immer wieder zarte, hoffnungsvolle Melodien an, so wie sich das Winterpoem überhaupt zu einem Geflecht entfaltet, in dem sich Stepanovas eigene Beobachtungen mit denen ihrer inneren Gesprächspartner verbinden – mit Kenneth Rexroths Übersetzungen klassischer chinesischer Dichter, mit Hans Christian Andersen oder E.T.A. Hoffmann.
Traumfiguren Unversehens taucht etwa Marie Stahlbaum auf, die romantische Heldin aus Nussknacker und Mausekönig, oder Tatjana Larina, die Liebende aus Alexander Puschkins Eugen Onegin. Es sind Traumfiguren im allgegenwärtigen Schnee, der nicht allein die Landschaft verbirgt, sondern die Zukunft: Beschert sie nach langer Isolation das Fest der Wiederbegegnung, oder kommt der Krieg samt Gulag, Vertreibung und Tod?
Wohl selten bringt ein Gedicht den Zustand unserer Gegenwart in gleichermaßen mehrdeutige wie präzise Bilder. Es ist in diesem Sinne ebenso zerbrechlich wie schonungslos aktuell.
Maria Stepanova: »Winterpoem 20/21«. Suhrkamp, Berlin 2023, 119 S., 22 €