Hierauf saßen Kinder. »Es ist schrecklich sich vorzustellen, was mit ihnen passiert ist«, sagt Elisabeth Herrmann und deutet auf die alte Holzbank im Flur der ehemaligen jüdischen Mädchenschule. Auguststraße, in Berlin-Mitte. Im Erdgeschoss befindet sich jetzt das Restaurant »Pauly Saal« mit Bar. »Hier geh ich mal her für ganz feine Anlässe, wenn mein Verleger kommt oder ich mit einem Produzenten ein Drehbuch bespreche.«
Art déco, Bronzestatuetten, gedämpfte Gespräche. Ihr gewinnendes Lächeln und eine aufrechte Sitzposition stechen ins Auge. »Wie man sitzt, ist das A und O des Schreibens. Zu Hause habe ich noch einen Drehstuhl aus der Abendschau-Redaktion. Das ist der Beste.« Diese Woche erscheint ihr neuester Kriminalroman, Totengebet. Es ist der fünfte Vernau, ihre vielleicht wichtigste Figur. Jener Berliner Anwalt, den sie vor zehn Jahren von der Leine ließ und den der Schauspieler Jan Josef Liefers in bereits vier Filmen verkörperte.
»Ich würde gern einmal«, sagt Elisabeth Herrmann und schlägt die Beine übereinander, »einen Krimi über die jüdische Gemeinde in Berlin machen. Ein Mord in der Gemeinde. Da kochen die Emotionen hoch«, sagt sie und reibt sich die Hände.
wahnsinn Das jüdische Leben oder der ganz normale Wahnsinn? »Das ist doch in unserem Alltag, eine spannende Facette unserer Stadt, die sich aber nicht in unseren Büchern oder Filmen widerspiegelt. Es gibt Krimis über Türken, Vietnamesen, Libanesen, die Böses tun. Warum kann man nicht mal ein Buch machen, in dem ein Jude etwas Böses tut?«
15 Jahre berichtete sie als Journalistin aus dem Gemeindeleben. Sie ist befreundet mit der Kantorin Avitall Gerstetter wie mit vielen anderen. »Das Shakespeare’sche Drama der letzten Repräsentantenwahl ist für jeden Autor ein Leckerbissen«, begeistert sie sich wieder händereibend, »aber ich bin kein Insider. Ich kann die Innenperspektive nicht wählen. Von etwas, das ich nicht verstehe, lasse ich die Finger«, sagt sie ehrlich. Schade. Und gut zugleich.
Die Authentizität des Romans ist eine andere. Ihr fiel ein altes Tagebuch in die Hände, das sie, 21-jährig, im Kibbuz Jifat unweit des Kinneret geführt hat. Sechs Monate war sie dort ein »Volunteer«. Jemand, der »Wiedergutmachung« leisten und genauso ehrlich »für wenig Geld möglichst lange in der Sonne bleiben« wollte. Aber in Totengebet findet sich kaum Autobiografisches aus dieser Zeit.
»Gedanken werden Geschichten«, sagt Herrmann, und plötzlich spielt sich vor 30 Jahren eine Tragödie in einem Kibbuz im Norden Israels ab, »in diesem Raum der Volunteers auf der einen und der Gemeinschaft der Kibbuzniks auf der anderen Seite, da ist Musik drin«. Jetzt beginnt die Arbeit der versierten Schriftstellerin. »Die Daumenschrauben ansetzen«, nennt sie das. »In der Runde der fröhlichen jungen Leute bricht in Gestalt eines konservativen jüdischen Mädchens eine Ahnung von echter Liebe ein, sie verliebt sich in einen lebenslustigen Deutschen – und schon haben wir den Konflikt.« Das darf nicht sein.
liebster »Haifa, 7. Oktober 1987. Um kurz vor halb sieben ging die Sonne unter. Rebecca saß auf der Holzbank neben dem schmalen Bahnsteig, den Blick starr auf die Betonbrücke gerichtet ...« So beginnt das Buch. Nur ihr Liebster, heißt es weiter, »der kam nicht«. So baut sie sofort Spannung auf. Verstrickt bald den damals ebenso jungen Joachim Vernau in eine Geschichte, die ihn ein halbes Leben später als Anwalt und Mordverdächtiger zwingt, nach Israel zu fliehen. Auf den Spuren einer jungen Frau namens Rachel, deren Mutter Rebecca hieß. »Die Einzige, die ein Motiv haben könnte« – und jetzt setzt man am Besten die unvermeidlichen drei Punkte des Genres ..., hält erst mal die Klappe und eröffnet eine Rückblende.
Elisabeth Herrmann ist jemand, der sehr genau recherchiert. Das hat sie gelernt. Geboren 1959 in Marburg, entstammt sie einem »uralten Frankfurter Besenbinderadel aus dem Gallus«. Der Vater war viel unterwegs, die Familie zog oft um. Als junge Frau kehrte sie in die Wohnung der Großmutter zurück. Eine Bauzeichnerlehre brach sie ab. Holte das Abitur nach, studierte Theaterwissenschaft und reiste fünf Jahre. Thailand, Spanien, Marokko, Israel. Dann ging sie nach Berlin, »the place to be«, und zum Radio. Arbeitete als Reporterin für die Abendschau und machte Dokumentarfilme für den SFB respektive RBB.
»Ich habe immer mal wieder geschrieben, ein Buch mit 20 und eines mit 30, aber das ist nichts für die Welt.« Die Initialzündung kam mit einer Randnotiz des Holocaust. Über einen Leserbrief gelangte sie an die Geschichte eines elfjährigen jüdischen Mädchens, das als Zwangsarbeiterin in einem deutschen Haushalt auf die Kinder sittsamer Nazis aufpassen musste. Herrmann flog nach Kiew. »Außer einem kleinen Verein, der dafür kämpfte, dass diese Frauen einen kleinen Ausgleich bekommen sollten, interessierte sich niemand für ihre Schicksale«. Dabei schätzen Historiker, dass in rund 160.000 Nazi-Familien jüdische Mädchen Zwangsarbeit im Kinderzimmer leisten mussten. »Niemand wollte diesen Dokumentarfilm finanzieren.«
vernau So erfand sie den Anwalt Vernau. Das Kindermädchen heißt ihr erstes Buch. Fünf Jahre hatte sie daran geschrieben. 50 Absagen hat sie von Verlagen dafür bekommen. »Zwangsarbeit ist ein Kassengift, das will keiner haben. Ich habe dem Verlag und den Lesern etwas zugemutet.« 130.000-mal hat sich das Buch seither verkauft.
Es folgten nicht minder schwierige Stoffe. Flucht, Vertreibung in Versunkene Gräber. Wieder recherchierte sie akribisch. »Man kriegt raus, was die Deutschen mit den Polen gemacht haben.« Und umgekehrt. Ein Buch, das zugleich Gräben aufzeigt, die in der Grenzregion wie zwischen den Völkern noch immer bestehen. »Das Nachwort war ein flammender Appell: Fahrt nach Polen, lernt das Land kennen, überwindet diesen alten Hass.«
In Dorf der Mörder geht es um das Thema Migration. »Als Schriftsteller müssen wir auch die Realität widerspiegeln. Das können wir nicht, wenn wir nur weiße, gebildete Mordopfer und Täter haben oder türkische Autoschrauber als Folklore.« Vielleicht ist das nicht populär genug. Nach dem ersten Buch gingen die Verkaufszahlen wieder runter. »Man braucht einen langen Atem und muss hartnäckig an sich selbst glauben.« Viele Jahre nach dem ersten Buch arbeitete sie noch im Sender. Versorgte nebenher die Tochter und schrieb nachts.
frauen Und dabei habe sie noch Glück gehabt. »In den 80er-Jahren durften Frauen gar keine Krimis schreiben.« Manche benutzten Männernamen als Pseudonyme. Lange Zeit sei die Gattung überhaupt »das Rotlichtmilieu des Literaturbetriebs gewesen: Jeder tut es, aber keiner spricht darüber«. Auch heute würden gerade mal »ein, zwei Säue durchs intellektuelle Feuilleton getrieben« – und der Rest ignoriert.
Das Genre ist hart umkämpft. Rund 600 im »Syndikat« organisierte Krimiautoren müssen sich den Markt teilen. Hinzu kommen jede Menge Amateure, Rentner und Semiprofis, Alpen- und Lokalkrimis sind noch immer die große Welle. »Ab und zu wird jemand geadelt.« Das klingt dann ungefähr so: »Es gibt nicht wenige, die Elisabeth Herrmann für die beste deutsche Krimiautorin halten. Man kann es verstehen«, hieß es einmal in der »Brigitte«. Weit über 70 Prozent aller Leser im deutschsprachigen Raum sind Frauen.
Auf ihren Lesungen trifft Herrmann ihre Leserinnen, und die Buchhändler tun das Ihre und empfehlen Herrmann ihren Leserinnen. Zudem hat sich eine muntere Blogger-Szene im Netz etabliert, die es dem Feuilleton dankenswerterweise abnimmt, gut oder schlecht gemachte Unterhaltung entsprechend zu bewerten und über manch schmerzende Nichtbeachtung hinwegzuhelfen.
Bald ist Herrmann Auflagenmillionärin. Und das Fernsehen scheint ihre Stoffe zu lieben. Sechs verfilmte Romane, alle anderen optioniert. Und nun, in dieser Gemengelage, Israel. Viermal bereiste sie das Land im letzten Jahr. Erlebte prompt eine Welle der Gewalt. »Jeden Tag Attentate, jeden Tag Tote. Ich war völlig erschüttert. Die jungen Leute versuchen, da rauszukommen. Sie gehen weg, dorthin, wo sie keine Angst haben müssen. Zum Beispiel nach Berlin.«
religion Was heißt hier Klappe halten? Das erste Mordopfer ist doch ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, jemand, der mit Vernau etwas gemeinsam hat. Aber irgendwie scheinen die Ereignisse diesmal ihrem Roman zu enteilen. »Ich weiß auch nicht mehr, in welcher Welt wir leben. Ich stamme aus einer Generation, die sagte: Nie wieder Krieg, nie wieder rassistische, religiöse Verfolgung. Und jetzt haben wir diesen Horror um uns herum.« Herrmann wirkt zum ersten Mal ratlos.
»Religion ist geisteskrank, wenn sie befiehlt: Töte einen anderen Menschen.« Das ist sicher richtig. Die »Rücksicht« auf Religion und Religionen im Allgemeinen störe sie zunehmend. »Man könnte glatt Atheist werden.« Auch so ein Satz. Totengebet beinhaltet eine Danksagung, die sich als flammender Appell geriert: »Ich glaube, dass Politik nichts in meinen Büchern zu suchen hat. Wer sie liest, der weiß, was Vernau denkt. Das reicht, finde ich. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es für uns Menschen nur eine erstrebenswerte Lösung geben kann: Frieden. Verzeihen. Frieden. Und noch mal Frieden.«
Das wäre wünschenswert. Schriftsteller müssen keine Antworten haben. Sie zeigen auf, das reicht. Das Leben und die Politik sind eine Gratwanderung. Wie zwischen einem Restaurant und einer verwaisten Schulbank auf dem Weg zur Toilette. Die Wirklichkeit und der Roman sind verschiedene Genres. »Ich wünschte mir, dass ich heute nicht nach Jechida gefahren wäre. Dass jemand anderes diese grausige Entdeckung gemacht hätte, die mich noch ewig verfolgen würde«, sagt Vernau. Und gibt sich eine mögliche wie unmögliche Antwort: »Die einfachste Lösung war wohl, ganz mit dem Wünschen aufzuhören.«