Literatur

Einig, uneinig zu sein

Der neue Jüdische Almanach umreißt die Bandbreite von Konsens und Dissens in Israel und der Diaspora

von Alexander Kluy  09.02.2023 09:09 Uhr

Foto: PR

Der neue Jüdische Almanach umreißt die Bandbreite von Konsens und Dissens in Israel und der Diaspora

von Alexander Kluy  09.02.2023 09:09 Uhr

Das fast 1000 Druckseiten dicke Bürgerliche Gesetzbuch der deutschen Rechtsprechung ist eindeutig: Bei Konsens und Dissens handele es sich um zwei korres­pondierende Willenserklärungen, um Angebot und Annahme, um Angebot und Ablehnung. Konsens steht für Übereinstimmung, Dissens für das Gegenteil.

Schaut man in die Kirchengeschichte, hat es eine auffallende Anzahl von »Dissenters« gegeben, von Abweichenden. Außer den englischen Puritanern, den Anhängern einer fundamentalistischen Sekte, die 1624 aus Trotz in die ihnen komplett unbekannte Neue Welt aufbrachen, um dort nichts Geringeres vorfinden zu wollen als ein Neues Jerusalem, gab es auch Brownisten und Grindletonianer, es gab Sozinianer, Levellers und, als einzig wahre Dissens-Abspaltung, die True Levellers, die einzig wahren Levellers.

schlagwort Unter das Schlagwort »Konsens Dissens« hat nun die in Jerusalem und Tel Aviv lebende Journalistin Gisela Dachs, die vor zwei Jahren an der Hebräischen Universität Jerusalem zur Professorin berufen wurde, die diesjährige Ausgabe des Jüdischen Almanachs gestellt.

Hält Dachs ihr Vorwort noch diskret distanziert und schlägt eher einen einführenden erläuternden Tonfall an, so realisiert man in der dramaturgischen Abfolge und Zusammenstellung, wie der eine Beitrag notwendig auf den nächsten zu folgen hat, wie der zweite Aufsatz mit dem dritten korrespondiert, der dritte Essay den vierten ergänzt, der fünfte den sechsten konterkariert.

Deutlich wird dies bereits in der ersten Hälfte, wenn auf einen Heine-Aufsatz aus der Feder Marcel Reich-Ranickis Ralf Balkes Porträt des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky folgt, geschmeidiger Seiltänzer zwischen eigenem Judentum und unverstellter Zusammenarbeit mit Ex-Nazis, die er in Ministerämter berief. Als Nächstes zu lesen: ein Essay über Henry Kissinger und dessen Idee von Diplomatie und »Realpolitik«, in deren Unterfutter auch Zynismus eingenäht ist.

SACHA BARON COHEN Danach ein Text über Sacha Baron »Borat« Cohen und dessen Brachial-Entlarvung tief sitzender, unausrottbarer Ressentiments. Was sich noch schärfer liest, da sich Toby Greenes Essay über David Baddiel, den englischen Comedian, und dessen Polemik Und die Juden? anschließt.

Hat der Romanist Yuval Tal aus Jerusalem das inhaltlich etwas ambivalente Glück, über die letzte Präsidentschaftswahl in Frankreich zu schreiben – und über die unverstellte Rückkehr unverstellten Antisemitismus in der offen rassistischen Kampagne des rechtsextremen Lagers –, so war Tal Schneider mit dem Problem konfrontiert, die 36. israelische Regierung, das extra-fragile Acht-Parteien-Bündnis unter Bennett/Lapid, unters Konsens-Dissens-Mikroskop zu legen – sodass Auflösungssymptome größer gerieten, als sie faktisch waren. Aber dann in der Parlamentswahl vom 1. November 2022 in noch größerem Ausmaß bestätigt wurden.

BENJAMIN NETANJAHU Der Politologe Avi Shilon hatte ein fast noch größeres Problem, da ihm auferlegt wurde, eine Por­trätvignette des »Bibismus« abzuliefern. Erschien doch Benjamin Netanjahus Autobiografie erst im Oktober 2022 in New York, Monate nach dem Redaktionsschluss des Almanachs. Dass der »Bibismus« sich nach dem jüngsten Erfolg neuerlich leicht anders darstellt, zeigt, wie rasch Gegenwartsanalysen antiquarisch werden können.

»Dissent is the highest form of patriotism«, Dissens ist die höchste Entwicklungsstufe der Vaterlandsliebe. Ein beliebtes, oft weitergereichtes und noch öfters weitergesagtes Zitat des US-Präsidenten Thomas Jefferson (1743–1826). Wobei es allerdings unter Historikern wie auch im Jefferson gewidmeten Museum in Monticello in Virginia keinerlei Konsens darüber gibt, ob dieser Satz tatsächlich von ihm stammt.

Gisela Dachs (Hrsg.): »Konsens Dissens. Jüdischer Almanach«. Mit Beiträgen von Yehuda Bauer, Dan Diner, Michael Wuliger, Noam Zadoff und anderen. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 220 S., 23 €

Auszeichnung

Historiker Michael Wolffsohn erhält Jugendliteraturpreis

Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur würdigt Engagement in der Geschichtsvermittlung

 23.11.2024

Berlin

Nan Goldin eröffnet Ausstellung mit Rede über Gaza-Krieg

Die umstrittene Künstlerin nennt Israels Vorgehen »Völkermord« – »propalästinensische« Aktivisten schreien Museumsdirektor nieder

 23.11.2024 Aktualisiert

Bochum

Gil Ofarim kündigt Konzert an

Gerade erst zeigte er sich geläutert - nun kündigt er neue Pläne an

 22.11.2024

Den Haag

Der Bankrott des Internationalen Strafgerichtshofs

Dem ICC und Chefankläger Karim Khan sind im politischen und juristischen Kampf gegen Israel jedes Mittel recht - selbst wenn es unrecht ist. Ein Kommentar

von Daniel Neumann  22.11.2024

Saarbrücken

Moderne Galerie zeigt Illustrationen von Marc Chagall

Die Schau »Marc Chagall. Die heilige Schrift« ist bis zum 25. April 2025 zu sehen

 21.11.2024

Fußball

Neuer wackelt: Plötzliche Chance für Peretz im Bayern-Tor?

Manuel Neuer plagt »ein Stechen im Rippenbereich« und Sven Ulrteich fällt vorerst aus persönlichen Gründen aus

 21.11.2024

Gut besucht: die Konferenz in Berlin

Zionismus-Tagung

Vom Recht auf einen souveränen Staat

In Berlin diskutieren Referenten und Teilnehmer aus Deutschland und Israel verschiedene Aspekte

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Veranstaltungen

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. November bis zum 28. November

 21.11.2024

Liedermacher

Wolf Biermann: Ein gutes Lied ist zeitlos gut

Er irre sich zuweilen, gehöre habe nicht zu den »irrsten Irrern«, sagt der Liedermacher

 21.11.2024