Ruth Klüger

Eingeschrieben ins Buch des Lebens

So eigenwillig wie die Schriftstellerin war, so unerbittlich klar gab sie Rechenschaft über ihr Leben. Ein Nachruf

von Rachel Salamander  15.10.2020 11:48 Uhr

Als Literaturwissenschaftlerin war sie von der Fruchtbarkeit einer feministischen Textdeutung überzeugt: Ruth Klüger (1931–2020) Foto: Getty Images

So eigenwillig wie die Schriftstellerin war, so unerbittlich klar gab sie Rechenschaft über ihr Leben. Ein Nachruf

von Rachel Salamander  15.10.2020 11:48 Uhr

Ihre unterschiedlichen Namen markieren ihren Lebenslauf. Er verlief nicht linear. Wie sollte er auch? 1931 geboren, verbrachte sie ihre Kinderjahre in Schuschniggs und Hitlers Wien. Zunächst jedoch konnte sie noch wählen.

Als Susi Klüger kam sie zur Welt, aber schon die Siebenjährige identifizierte sich so stark mit der biblischen Ruth, dass sie sich Ruth nannte. Als ihr später die Flucht aus einem Transport gelang, wiesen sie tarnende Papiere als Kalisch aus.

Literaturhandlung Als sie mich Anfang der 80er-Jahre in der Literaturhandlung aufsuchte, lernte ich sie als Ruth K. Angress (K für Klüger) kennen. Seither begleiteten wir uns.

Ihren namensgebenden Ehemann, den Historiker Tom Angress, Vater ihrer zwei Söhne, erlebte ich nie mit ihr zusammen, denn die 1953 geschlossene Ehe wurde bereits 1962 geschieden.

Werner Angress, der als Ritchie Boy auf Seiten der Alliierten bei der Befreiung Deutschlands kämpfte, stellte 1985 sein Buch Generation der Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Dritten Reich in der Literaturhandlung vor. Weder sie noch er erzählten vom jeweils anderen. Erst viel später, als Ruth und ich uns anfreundeten, kam die Sprache auf ihn – nicht besonders vorteilhaft, wie auch im zweiten Band der Memoiren nachzulesen. Konsequent nahm sie ein zweites Mal ihren Wahlnamen Ruth Klüger an.

Ruth Klüger halfen die Gedichte, die sie sich auswendig vorsagen konnte, zu überleben.

Mit einem Paukenschlag machte sie 1992 ihre Autobiografie Weiter leben berühmt. Nach einem schweren Autounfall 1988 in Göttingen begann sie mit Notizen zu ihrem Leben. Sie schrieb sie für ihre Freunde auf Deutsch. Ihre Kinder sprechen kein Deutsch. In den knapp 300.000-mal verkauften Erinnerungen berichtet sie von ihrem Überleben in den nationalsozialistischen Arbeits- und Todeslagern.

Alle Stationen teilten Mutter und Tochter: die Lager, die Flucht, die Emigration. Mit ihrer Mutter, einer begüterten Fabrikantentochter, die sich scheiden ließ, um den mittellosen Medizinstudenten und späteren Frauenarzt Klüger zu heiraten, lief es nicht reibungslos.

zufall Unglaublich offen, streckenweise schonungslos, charakterisiert Ruth Klüger diese energievolle berufstätige Frau, die viermal heiratete. Ein Leben lang vermisste Ruth ihren Vater, der nach Frankreich floh, als sie acht Jahre war. Er wollte die Familie retten und kam wie Ruths Bruder Schorschi um.

Poesie bezeichnete sie als »rettendes Geländer«.

Als die Nazis im März 1938 in Österreich einmarschierten, begann für die Familie die schrittweise Dehumanisierung, bis die elfjährige Ruth schließlich 1942 zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt, später nach Auschwitz und ins schlesische Christianstadt deportiert wurde.
Nur durch Zufall, wie sie schrieb, überlebte sie. Aus Versehen hatte sie sich in die falsche Schlange eingereiht und sich zwei Jahre älter gemacht. Ruth Klüger halfen die Gedichte, die sie sich auswendig vorsagen konnte, zu überleben.

Mit 14 verfasste sie in Auschwitz das Gedicht »Der Kamin«. Poesie bezeichnete sie als »rettendes Geländer«. Vor Kriegsende gelang den beiden Frauen auf einem der Todesmärsche die Flucht. Sie landeten in Straubing, und Ruth beschrieb die Zeit dort als eine der glücklichsten. Ähnlich wie Ingeborg Bachmann in ihrem Kriegstagebuch bejubelte Ruth Klüger den ersten Sommer als Fest der Freiheit.

1947 kehrte sie mit ihrer Mutter Deutschland den Rücken via Amerika, besuchte in New York das College, um Germanistik und Anglistik zu studieren, und wurde dort eine der renommiertesten Germanistinnen.

Perspektive Sie beharrte auf der Fruchtbarkeit einer feministischen Perspektive der Textdeutung. Als bekennende Feministin ging sie fest davon aus, dass dieser Standpunkt, analog übrigens zu einem jüdischen, unbekannte Bedeutungen aufzudecken vermochte.

Seit 1992 kreisten Ruth Klügers Veröffentlichungen immer wieder um diese Thematik. Ihr Augenmerk richtete sich auf die Literatur von Frauen und über Frauen. Nach ihrem Bestseller Frauen lesen anders von 1996, der das Bewusstsein für die »gender problems« schärfte, kam 2010 Was Frauen schreiben heraus. Es handelt sich um Rezensionen aus eineinhalb Jahrzehnten, die Bücher von Frauen besprachen. Dieses Buch widmete sie mir, weil die meisten der hier abgedruckten Texte erstmals in der »Literarischen Welt« erschienen, der samstäglichen Beilage der »Welt«, in der ich eigens für Ruth Klüger einmal im Monat die Kolumne »Bücher von Frauen« eingerichtet hatte.

Die Zusammenarbeit mit ihr bereitete immer Vergnügen, ob bei ihren vielen Vorträgen in der Literaturhandlung oder bei ihren Kritiken und Gedichtinterpretationen.

Als Literaturwissenschaftlerin machte sie vor keiner heiligen Kuh halt, weder vor Thomas Manns herablassender Haltung jüdischen Figuren gegenüber, noch vor dem jüdischen Danziger Spielwarenhändler von Günter Grass und seinen allesamt total trivialisierten Frauengestalten, wie sie sagte.

reich-ranicki Auch mit Martin Walser rechnete sie anlässlich seines 2002 erschienenen Romans Tod eines Kritikers ab, in dessen Mittelpunkt ein Großkritiker mit den unverkennbaren Zügen Marcel Reich-Ranickis steht.

Wie die überwiegende Mehrzahl der Kritiker empfand auch Ruth Klüger den Text als antisemitisch, aber für sie mit Folgen. Sie kündigte ihrem langen Weggefährten in einem offenen Brief schweren Herzens die Freundschaft auf. Sie hatte Walser 1946 beim Studium an der Hochschule in Regensburg kennengelernt. Sie mochten sich.

Er war es auch, der als Erster Weiter leben las und dem »Literarischen Quartett« empfahl, wo ihr Reich-Ranickis Lobeshymne zum Durchbruch verhalf. Unvergesslich bleibt Ruths Schilderung, wie, mit ihm im Sommer auf der Unibank zusammensitzend, ihre Auschwitz-Nummer sichtbar wurde und Walser mit keinem Wort nach Auschwitz fragte.

Mit ihren scharfen Analysen und Rezensionen der sogenannten Holocaust-Literatur erregte sie viel Aufsehen. Sie entlarvte so manchen Text als trügerisches Zeugnis und wandte sich vehement gegen grassierenden »Holocaust-Kitsch« und den »Missbrauch der Erinnerung«. Sie beschäftigte die Frage, ob man den Holocaust fiktionalisieren darf und wann Kunst, Fiktion über Auschwitz legitim sei.

Unbestechlichkeit zeichnete sie aus. Die Maßstäbe konnten ihr nicht hoch genug sein.

Der mit Spannung erwarteten Fortsetzung von Weiter leben gab sie den Titel Unterwegs verloren. Darin schildert sie ihr Weiterleben nach dem Überleben. »All jene, die Lager überstanden haben, leben in einer dunkleren Gegenwart als andere.«

Atemberaubend sind ihre Einlassungen über ihre KZ-Nummer, die sie sich als Sechzigjährige chirurgisch entfernen ließ. Doch die Spuren der Vernichtung beseitigen zu wollen, gelang ihr nicht. Sie gehörte übrigens zu den wenigen Menschen, die auf »Wiedergutmachungszahlungen« verzichtete. Sie wollte kein Blutgeld.

In Unterwegs verloren werden wir Zeugen, wie sich Ruth Klüger unterwegs immer wieder verlor. Aber der 2008 erschienene zweite Band der Erinnerungen zeigt auch ihre erfolgreich erkämpfte akademische Karriere in den USA.

synagoge Ruth Klügers Besuch in München 2016 auf dem Weg nach Wien fiel auf Rosch Haschana. Ich lud sie ein, mit mir in die Synagoge zu gehen. Es war das erste Mal, dass sie seit ihrer Kindheit zu Neujahr in die Synagoge ging. Ganz aufgeregt und unsicher, ob sie dafür die richtige Garderobe hätte und trotz ihrer Areligiosität bewegte sie dieser Besuch stark.

Zu Rosch Haschana diesen September schickte ich ihr Neujahrswünsche, vor allem, dass sie gut ins Buch des Lebens eingeschrieben sein möge.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober ist sie im Kreis ihrer Familie gestorben. Was für ein Verlust. Am 30. Oktober wäre sie 89 Jahre geworden.

Die Autorin ist Publizistin und Literaturwissenschaftlerin sowie Gründerin der Literaturhandlung Berlin/München.

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