Rezension

Eine Suche, die sich lohnt

Was ist jüdische Musik? Den Musiker Yuriy Gurzhy nervt diese Frage. Für sein Buch »Richard Wagner & die Klezmerband« weiß er sie dennoch zu nutzen

von Lilly Wolter  03.11.2022 18:26 Uhr

Der Musiker Yuriy Gurzhy in Berlin Foto: Chris Hartung

Was ist jüdische Musik? Den Musiker Yuriy Gurzhy nervt diese Frage. Für sein Buch »Richard Wagner & die Klezmerband« weiß er sie dennoch zu nutzen

von Lilly Wolter  03.11.2022 18:26 Uhr

Der Musiker, DJ und Produzent Yuriy Gurzhy – geboren in der Ukraine, seit 20 Jahren in Berlin lebend – hat ein Buch mit einem Titel geschrieben, der aufhorchen lässt: Richard Wagner & die Klezmerband. Auf der Suche nach dem neuen jüdischen Sound in Deutschland.

Moment mal. Richard Wagner, der 1850 das antisemitische Pamphlet »Das Judenthum in der Musik« verfasste und später zu Hitlers Lieblingskomponist wurde, wird zusammen mit der traditionellen jüdischen Volksmusik in einem Buchtitel erwähnt? Das kann nur ein Scherz sein.

Der Autor sagt, es sei »seine Rache« an Wagner, dem es sicher nicht gefallen hätte, zusammen mit Klezmer erwähnt zu werden. Damit lockt Gurzhy in ein Buch, das so randvoll ist mit Hintergründen, Stimmen und Analysen, dass der Versuch einer Rezension fast schon unmöglich scheint. Versuchen kann man es ja trotzdem.

MOSAIK Wie der Titel verrät, begibt sich Gurzhy auf die Reise zum »neuen jüdischen Sound in Deutschland.« Doch diese Spurensuche unternimmt er nicht allein. Er sprach mit hunderten Musikern und Experten, woraus sich ein vielschichtiges, hochspannendes Mosaik ergibt. Wohl nicht von ungefähr wurde Richard Wagner & die Klezmerband in diesem Jahr als eines der zehn besten Bücher aus unabhängigen deutschsprachigen Verlagen ausgewählt.

Das Buch deutet schon auf den ersten Seiten an, dass es in die Tiefe geht. Gurzhy stellt direkt am Anfang die aus seiner Sicht sehr lästige Frage, was denn nun jüdische Musik genau sei. Doch er hebelt diese Frage sofort wieder aus, indem er sie von seinen vielen Gesprächspartnern beantworten lässt und belegt: Es gibt entweder keine oder unendlich viele Antworten.

Eine davon lautet: »Jüdische Musik ist von Juden für Juden.« So sah es zumindest der Musikwissenschaftler Abraham Zwi im Jahr 1929. Der Musikethnologe Curt Sachs ging sogar noch weiter und hielt 1957 fest, dass jüdische Musik »von Juden, für Juden, als Juden« sei. Der US-amerikanische Musiker und Wahlhamburger Daniel Kahn widerspricht dieser Definition vehement und schlägt vor: »Jüdische Musik ist einfach die Musik, die sich mit dieser Frage beschäftigt und nicht darauf antwortet.«

»Macht man als jüdischer DJ automatisch jüdische Musik?«

Victoriah Szirmai, Musikkritikerin

Auch die Musikkritikerin Victoriah Szirmai stört sich an diesem »engen Korsett.« Denn würde Sachs Definition stimmen, so Szirmai, würde ein jüdischer DJ keine jüdische Musik mehr machen, sobald er für Nichtjuden auflege. Und sie fragt: »Macht man als jüdischer DJ automatisch jüdische Musik?«

Fabian Schnedler, der als Bildungsreferent für das Jüdische Museum Berlin tätig ist, möchte in dem Buch von Yuriy Gurzhy genauso wenig eine klare Definition dafür abliefern, was jüdische Musik ist. Die viel spannendere Frage für ihn sei, warum die Frage nach dem Wesen jüdischer Musik immer wieder gestellt werde. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer macht es sich einfacher: »Jüdische Musik kann alles sein!«, was er damit begründet, dass das jüdische Volk über die gesamte Welt verstreut ist und so viele verschiedene kulturelle Traditionen in sich trägt.

Rückblick Gurzhy stellt in seinem Buch aber nicht nur Fragen, die er lästig findet. Er blickt auch auf seine eigene Biografie und erzählt von seinen ersten Jahren in Deutschland. Er erzählt von Plattenbausiedlungen, die zum Zuhause wurden und wo er, inmitten einer postsowjetischen Gemeinschaft, sein Jüdischsein erkundete. Der Leser erfährt von Wohnungen, die provisorisch zu Synagogen umgebaut wurden, vom Ankommen in einer neuen Welt, vom Finden der jüdischen Identität und welche Rolle die Musik dabei spielte.

Vom Suchen und Finden in Deutschland berichten auch zahlreiche andere Sowjetjuden. Darunter die Schauspielerin Marina Frenk, die in Russland aufwuchs und lange nicht wusste, dass sie Jüdin ist. Ähnlich erging es der Journalistin, Comedian und Autorin Katja Garmasch.

Neu in Deutschland, begann Gurzhy seiner Musik-Faszination weiter nachzugehen. Er stöberte durch die Plattenläden seiner neuen Heimat, erkundete stundenlang CDs, bis er irgendwann die Rubrik »Jüdische Musik« entdeckte. Natürlich fand er darin die Musik von Klezmer-Stars wie Giora Feidman und Co, was ihn allerdings kaltließ.

Sein Stöbern setzte er also in alternativen Plattenläden wie »Freak Out« fort und stieß dort auf die CDs der Reihe »Radical Jewish Culture.« Dahinter steckt der US-amerikanische Saxofonist John Zorn, der mit seinem Label »Tzadik« das Ziel verfolgte, ungewöhnliche jüdische Musik herauszubringen. Es macht Spaß, wie Gurzhy seine musikalischen Erkundungen rekonstruiert. Jede Seite regt dazu an, Kopfhörer aufzusetzen und auf Play zu drücken.

Wer Yuriy Gurzhy nicht kennt, dem dürfte zumindest die legendäre Partyreihe »Russendisko« ein Begriff sein. Es war Gurzhy, der sie zusammen mit Wladimir Kaminer ins Leben rief und große Erfolge damit feierte. Heute allerdings, sei die »Russendisko« für ihn tot. »Ich habe 2014 aufgehört, mit der Russendisko öffentlich aufzutreten – wegen des Kriegs im Donbass und der Okkupation der Krim durch Russland«, sagte der gebürtige Ukrainer im April 2022 der Jüdischen Allgemeinen.

»Mit den Klezmatics haben wir die Idee von Nostalgie und den Kitschelementen darin befreit.«

Frank London, US-amerikanischer Trompeter und Komponist

Geschichte Mit der Suche nach dem neuen, jüdischen Sound, zeichnet Gurzhy außerdem auch ein ganz eigenes Bild der modernen, jüdischen Geschichte. Dieses Bild malt er aber nicht allein. Zu Wort kommt unter anderem Frank London, US-amerikanischer Trompeter und Komponist, der mit seiner Band »The Klezmatics« dem Klezmer einen neuen Anstrich verpasste und dafür 2007 einen Grammy gewann, blickt auf das eigene Schaffen zurück: »Mit den Klezmatics haben wir die Idee von Nostalgie und den Kitschelementen darin befreit.«

Auch der US-amerikanische Klangkünstler und Wahlberliner Paul Brody erzählt von seinem Weg zur jüdischen Musik. Er begann in Boston, wo er am Musikkonservatorium Trompete studierte und später als Ersatztrompeter bei der renommierten Klezmer Conservatory Band einstieg. Brody berichtet, dass er sich lange nicht jüdisch genug fühlte, um jüdische Musik zu machen. Doch als er nach Berlin ging, um dort seine erste Jazz-Platte aufzunehmen, legte er seine Zweifel ab. Er lernte den US-amerikanischen Klarinettist Joel Rubin kennen und ließ sich von ihm im Klezmer unterrichten.

BÖSEWICHTE Wer glaubt, das Richard Wagner & die Klezmerband nur von feinsinnigen Musikern handelt, irrt. Das Buch widmet sich auch groben Figuren. In einem ganzen Kapitel geht es ausschließlich um jüdische Bösewichte. Nicht wegzudenken ist in diesem Zusammenhang die im Jahr 2011 erschienene CD »Kosher Nostra«. Sie trägt den Namen einer jüdisch dominierten Verbrecherbande aus dem New York des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als »Kosher Nostra«-Experte lässt Gurzhy den israelischen Künstler und Kurator Oz Almog zu Wort kommen. Er widmete diesem Thema 2003/2004 eine ganze Ausstellung, wofür er mit Gangstern und deren Söhnen sprach. Almog fragte, welche Musik sie gern hörten, und lieferte damit die Grundlage für die »Kosher Nostra«-CD.

Gurzhy scheut sich nicht davor, seine Leser in die noch so kleinste Nische jüdischer Musik zu führen. Platz findet so auch die Geschichte der Kieler Band Klezcore, deren Gründer Martin Quetsche und Christine V. Bülow es wagten, den traditionellen Klezmer mit aggressivem Punkrock aufzubrechen.

Wer ein derart dichtes Buch über jüdische Musik schreibt, ist fast dazu verpflichtet, seinen Lesern eine ausführliche Diskografie mit an die Hand zu geben. Schön, dass sich Gurzhy daran hält und am Ende dreieinhalb Seiten feinste Musikempfehlungen ausspricht. Die Sorge, etwas bei den vielen Eindrücken verpasst zu haben, schmälert er so ungemein. Das Buch endet letztlich mit einer Erkenntnis, die sich gleichzeitig als Versprechen liest: »Je mehr ich schreibe, desto offensichtlicher wird es für mich, dass dieses Buch eine Fortsetzung braucht!«. Recht hat er.

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