Gefühlt ist sie überall. Es gibt den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, jährlich vergeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stadt Bremen, die vom Auswärtigen Amt gegründete Hannah-Arendt-Initiative zum Schutz von Journalisten und mindestens ein Dutzend Hannah-Arendt-Gymnasien in Deutschland. Und kaum eine Rede zu politischen Tagesthemen scheint heute mehr ohne ein Zitat der 1906 in Linden bei Hannover geborenen Philosophin und Publizistin auszukommen.
Auch glaubte man, ihr Leben bestens zu kennen. Dafür sorgten unter anderem der Hannah-Arendt-Film von Margarethe von Trotta aus dem Jahr 2012 sowie unzählige Dokus im Fernsehen. Und natürlich das Buch Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit von Elisabeth Young-Bruehl, selbst eine Arendt-Schülerin, das als so etwas wie der Goldstandard gilt. Warum nun eine weitere, recht voluminöse Biografie, mag man sich fragen.
Herausgeber der Studienausgabe der Schriften von Hannah Arendt
Da ist erst einmal der grundlegend andere Ansatz, den ihr Autor Thomas Meyer gewählt hat. »Ich habe mich dafür entschieden, einen Schritt zurückzutreten und Hannah Arendts Leben und Werk nahezu vollständig in ihrer Zeit darzustellen«, schreibt der Professor für Philosophie sowie Herausgeber der zwölfbändigen Studienausgabe der Schriften von Hannah Arendt. »Auf ihre eigene Gegenwart nämlich ließ sie sich in einer besonderen Weise ein, wie diese erste auf Archivrecherchen beruhende Biografie belegt.«
Arendts Arbeit für zionistische Organisationen hat ihr Denken beeinflusst.
Bis dato unbekanntes Archivmaterial sowie Dokumente, die von der Forschung weitestgehend ignoriert wurden, wenn es um die Person Hannah Arendt und weniger um ihre Werke ging, bilden dafür die Basis. Meyer richtet den Fokus primär auf zwei wesentliche Phasen ihres Lebens, und zwar die Zeit im französischen Exil sowie ihre ersten Jahre in den Vereinigten Staaten bis zur Publikation ihres Opus magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Auf diese Weise gewinnt eine Hannah Arendt Konturen, die angesichts ihres enormen theoretischen und analytischen Outputs wohl die wenigsten auf dem Radar haben dürften. Gemeint ist die Rolle der Intellektuellen als politische Aktivistin. Meyer skizziert dabei nicht einfach nur ihr Engagement für die Kinder- und Jugend-Alija und verweist auf Arendts Rolle bei der Rettung mehrerer Hundert Jugendlicher aus Nazi-Deutschland und dem östlichen Europa.
Vielmehr synchronisiert der Autor ihre Erfahrungen als Mitarbeiterin zionistischer Organisationen mit den in diesen Jahren von ihr produzierten Schriften über die Entstehung des Antisemitismus, ihre Beschäftigung mit Rahel Varnhagen sowie ihren Gedankenaustausch mit Protagonisten der zionistischen Bewegung, allen voran Kurt Blumenfeld und Henrietta Szold, sowie den in Frankreich gestrandeten Verfolgten und Gegnern des Nationalsozialismus.
Genau darin besteht auch der Reiz des Buches. Meyer zeigt, dass ihre ganz praktischen Tätigkeiten einen starken Einfluss auf ihr Denken nahmen – und natürlich umgekehrt. So verweist er beispielsweise auf ihre Rolle in dem Komitee, das sich gebildet hatte, um David Frankfurter zu unterstützen, jenen Mann, der 1936 den Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz erschossen hatte.
Dennoch fällt es einem schwer, Hannah Arendt nun als eine politische Aktivistin wahrzunehmen – nicht zuletzt deshalb, weil dieser Begriff in der Gegenwart zu inflationär benutzt wird und deshalb fast schon einen negativen Beigeschmack hat. Ihr Denken war eines, das von der großen Katastrophe geprägt wurde, die über die Juden in Europa hereinbrach. Und von dem Gefühl der Machtlosigkeit, gegen das sie, und dies belegt die Biografie sehr eindrücklich, immer wieder anzukämpfen versuchte.
Restitution jüdischer Kulturgüter
Vor diesem Hintergrund ist auch Hannah Arendts Rolle bei der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction zu verstehen, die sich nach dem Krieg um die Restitution jüdischer Kulturgüter zu kümmern versuchte. Nur lautete die Frage, mit der sie sich beschäftigen sollte: An wen? Die jüdischen Gemeinschaften in Europa existierten so gut wie nicht mehr. Sollte nun alles nach Amerika oder nach Palästina, wohin sich ein Teil von ihnen hatte retten können?
Wer sich mit Hannah Arendt intensiv beschäftigen möchte, kommt um die neue, luzide geschriebene Biografie nicht herum.
Und das führte zu ihren Überlegungen, wie eine Zukunft für Juden aussehen könnte. »Verantwortung zu übernehmen, das hieß, in irgendeiner Weise der jüdischen Sache zu dienen und zugleich nach Möglichkeiten zu suchen, wie künftig solche Ereignisse zu vermeiden waren«, bringt Meyer die Positionen von Arendt in dieser Zeit auf den Punkt.
»Das bedeutete wiederum, über Fragen von Staat, Nation, dem Status von Exil, der Staatsbürgerschaft nachzudenken, und zwar so, dass die gegebenen Bedingungen berücksichtigt würden.« Genau diese Gedanken durchzogen das weitere Werk der Philosophin bis zu ihrem Tod 1975 wie ein roter Faden.
Wer sich also mit Hannah Arendt intensiv beschäftigen möchte, kommt um die neue, luzide geschriebene Biografie nicht herum. Nur ein wenig Vorsicht ist geboten. Ohne gewisse Grundkenntnisse ihrer Bücher wird man manchmal den einen oder anderen Abschnitt in dem Buch nicht ganz verstehen. Es ist also kein Einstiegswerk.
Thomas Meyer: »Hannah Arendt«. Piper, München 2023, 528 S., 28 €