Herr Jacobson, in Ihrem Roman »Die Finkler-Frage« treten zwei Hauptfiguren auf. Da ist einmal Julian Treslove, ein Nichtjude, der gern jüdisch wäre.
Solche Leute gibt es wirklich. Ich bin immer berührt, wenn ich sie treffe. Und mir schien, dass es in einem Buch über Jüdischsein und Antisemitismus im heutigen England eine Stimme geben sollte, die gut über Juden spricht – eine Stimme, die von außerhalb kommt. Wir Juden vergessen oft, wenn wir davon reden, wie viel Gegenwind uns entgegenschlägt, dass es auch viel Zuneigung für uns gibt. Ich wollte jemanden in dem Roman haben, der uns mag, wenn auch auf manchmal alberne Art.
Auf der anderen Seite steht Sam Finkler. Der ist Jude und wäre es lieber nicht.
Eigentlich will Finkler nicht nur kein Jude sein. Er will gar nichts sein. Er will vergessen. Wir Juden sind alle groß im Erinnern und im Vergessen. Wie viel müssen, sollen, dürfen wir in Erinnerung behalten, wie viel müssen, sollen, dürfen wir vergessen. Finkler ist ein jüdischer Vergesser. Er vergisst seine philosophische Bildung, er vergisst seine Frau. Und er vergisst sein Judentum, vergisst dessen Sinn und Zweck. Aus dem Zusammentreffen dieser zwei Protagonisten, dachte ich mir, können Spannung, Komik – und auch Tragik – erwachsen.
Treslove ist ein Möchtegern-Jude, Finkler ist ein Möchtenicht-Jude. Was für ein Jude ist Howard Jacobson?
Ich versuche noch, das herauszufinden.
In Ihrem Alter? Sie sind bald 70.
Wozu die Eile? Wie alt war Abraham? Wie alt war Moses?
Sind Sie religiös?
Nein. Aber auch nicht areligiös. Ich habe es nur nicht so mit Ritualen. Der allmächtige, gelegentlich eifernde, manchmal, aber nicht immer, gnädige Gott, diese beeindruckende Figur, die wir aus unserer Fantasie geschaffen haben – interessiert den wirklich, ob ich Schinken auf meinen Bagel tue? Ich denke, nicht. Aber es gibt Dinge im Judentum, die ich für mich nicht missen möchte.
Zum Beispiel?
Die Intellektualität. Die Liebe zum kritischen Denken. Das Infragestellen von Dingen. Denken Sie an die wunderbare talmudische Gelehrsamkeit. Fragen, fragen, fragen nonstop. Wir Juden können darauf stolz sein. Nicht zu vergessen, der jüdische Witz, einer unserer großen Beiträge zur Weltkultur.
Finkler möchte all das lieber hinter sich lassen. Gibt es in England viele Finklers?
Ziemlich viele. Das hat im Judentum ja Tradition. Schauen Sie in die Tora. Moses kommt vom Sinai und stellt fest, dass die Juden inzwischen um ein goldenes Kalb tanzen. Juden scheinen ein Bedürfnis zu haben, sich vom Judentum abzuwenden. Vielleicht ist das eine Folge des Monotheismus. Es gibt nur einen Gott, und der ist ziemlich fordernd: Ich habe für euch dies getan, jetzt tut ihr für mich das. Wem das zu viel wird, dem bleibt nur übrig, dem Judentum Ade zu sagen. Und das ist in der Geschichte häufig vorgekommen. Finkler steht in einer langen Tradition jüdischer Abtrünniger. Was mich in dem Roman beschäftigt, ist die Form, die diese Abkehr heute annimmt.
Welche ist das?
In Großbritannien, Europa, den USA – wenngleich dort seltener – ist die aktuelle Rechtfertigung für die Abkehr vom Judentum der Antizionismus. Wenn man diesen Leuten das attestiert, weisen sie es allerdings von sich, sagen, dass ihre Israelkritik in der edelsten jüdischen Tradition stehe. Sie sagen: Wie kann ich antisemitisch sein, ich bin doch selbst jüdisch? Haha! Als ob Juden die Antwort darauf nicht kennen würden. Ich habe im Prinzip nichts gegen Kritik an Israel. Lass uns über Netanjahu streiten, über die Siedlungen, über all das, was mir dort auch nicht gefällt. Aber Kritik an Israel und Kritik am Zionismus sind zwei Paar Schuhe. Zionismus ist keine Chiffre für die aktuelle Politik. Zionismus ist das jahrhundertealte Streben des jüdischen Volks nach einem eigenen Platz auf der Welt. Ich kann nur schwer begreifen, warum man dagegen etwas haben kann.
Wirklich?
Ich kann noch verstehen, dass die Palästinenser, die meinen, das sei ihr Land, nicht das der Juden, mit dem Zionismus über Kreuz liegen. Aber wem ich jedes Recht abspreche, den Zionismus infrage zu stellen, sind die Leute aus den »zivilisierten Ländern«, die die Juden vertrieben haben. Als Romanautor soll ich eigentlich in meinen Büchern keine Stellung beziehen. Das ist eine eiserne Regel. Aber in »Die Finkler-Frage« breche ich diese Regel an einer Stelle und lasse Finkler, der an seinem eigenen Antizionismus zu zweifeln beginnt, wütend fragen: Mit welchem Recht wollen dieselben Leute, die Jahrhunderte lang gerufen haben »Juden raus!«, jetzt den Juden vorschreiben, wie sie ihren Staat gestalten sollen? Das ist grotesk!
Bei aller Komik fand ich Ihr Buch im Kern eigentlich traurig. Sie beschreiben ein England, in dem der Antisemitismus Alltag ist.
Was stimmt, ist, dass in England heute der Antizionismus allgegenwärtig ist. Der Roman stellt die Frage, wie viel von diesem Antizionismus eine Reaktion auf die politische Lage in Nahost ist, und was nur eine neue Form alten Judenhasses. Wobei interessant ist, dass dieser Antizionismus von Links kommt, nicht von Rechts. Früher wusste man als Jude, wo man politisch stand. Es gab die Rechte, die von »Saujuden« sprach. Heute haben wir Leute, die behaupten: Nein, wir haben nichts gegen Juden, nur gegen den Zionismus. Selbst wenn ich das für bare Münze nehmen würde, frage ich in dem Roman doch: Was sind die Konsequenzen dieser ständigen, allgegenwärtigen antizionistischen Geräuschkulisse, die auch zu hören ist, wo sie der Sache nach überhaupt nicht hingehört? Dieser Antizionismus ist ein Tick, eine Obsession.
Ist das nicht genau die Definition des Antisemitismus: eine Obsession mit den Juden?
Wer besessen ist, merkt das selbst nicht. Sie und ich sagen Obsession. Die Besessenen selbst nennen es Engagement oder sprechen von politischem Gewissen. »Ich bin betroffen«, sagen sie, »ich engagiere mich für die Palästinenser.« Aber natürlich ist es eine Obsession.
Obsessionen sind schwer therapierbar.
Ja, ich sehe da auch keine Heilungsmöglichkeiten. Mich interessieren die Konsequenzen, wenn das zu zunehmendem Antisemitismus führt. Was bereits geschieht. In London lief vor einiger Zeit ein Theaterstück von Caryl Churchill, »Seven Jewish Children«, ein Stück Dreck eigentlich. Churchill hat natürlich nichts gegen Juden, einige ihrer besten Freunde sind Juden und so weiter blababla. Aber am Ende des Stücks stehen Judendarsteller auf der Bühne und sagen, dass sie lachen und sich freuen, wenn palästinensische Kinder sterben. Da höre ich keine rationale Kritik am Staat Israel oder am Zionismus heraus. Was ich höre, sind die alten Ritualmordlegenden. Im Publikum saßen bekannte Persönlichkeiten der Londoner intellektuellen und künstlerischen Szene. Sie haben applaudiert. Wenn kultivierte Menschen Antisemitismus Beifall spenden, auch wenn dieser Antisemitismus sich nicht als solcher bekennt, muss man sich Sorgen machen. Und diese Sorge durchzieht auch den Roman.
Das Gespräch führte Michael Wuliger.
Howard Jacobson: »Die Finkler-Frage«. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. DVA, München 2011, 448 S., 22,99 €