Vorweg: Den Ingeborg-Bachmann-Preis hätte dieser Band nicht erhalten. Dafür ist die in der Geburtsstadt der Namensgeberin vergebene literarische Auszeichnung bei allen Anfechtungen im Einzelnen doch zu anspruchsvoll. Das jetzt erstmals veröffentlichte Kriegstagebuch von Ingeborg Bachmann ist als Typoskript auf sechs Schreibmaschinenseiten überliefert und wahrscheinlich von der Autorin aus umfangreicheren Eintragungen ausgewählt und überarbeitet worden. Es enthält einige Erlebnisaufzeichnungen aus den letzten Kriegstagen und die romantischen Empfindungen der damals Achtzehnjährigen zu Jack Hamesh, einem britischen Besatzungssoldaten österreichisch-jüdischer Herkunft: eine frühe Liebesbeziehung, in sehr persönlichen und schönen Worten aufgeschrieben. Das umfangreiche Nachwort des Bachmann-Forschers Hans Höller ordnet diese frühen Erlebnisse der Autorin in ihr Werk und auch in ihre spätere Beziehung zu Paul Celan ein.
einsamkeit Der Band, der aus diesen sechseinhalb Druckseiten des eigentlichen Tagebuchs entstand, wird durch die Briefe, die Jack Hamesh zwischen Ostern 1946 und Juli 1947 zunächst aus Österreich und Italien, später aus Israel an seine geliebte Ingeborg schrieb, zu einem ergreifenden Dokument der Einsamkeit und Entwurzelung. Hamesh war 1938, achtzehn Jahre alt, mit einem Kindertransport nach England gekommen. Seine Familie überlebte die Schoa nicht. In Klagenfurt lernte er die junge Ös-terreicherin kennen, als sie einen Ausweis bei der britischen Besatzungsmacht beantragte. Der Vater von Ingeborg Bachmann war schon lange vor dem »Anschluss» 1938 Mitglied der NSDAP geworden. In diese Familie wurde der «Jude», wie die Umgebung Hamesh abfällig verkürzte, aufgenommen.
Seine in den Briefen fast hilflos erklärte Liebe zu der jungen Abiturientin wurde zwar momentan erwidert, aber Ingeborg Bachmann gab dem Heimatlosen kein Signal, dass diese Liebe eine längere Perspektive haben könnte. Hamesh, von dem es außer dieser Korrespondenz keine weiteren Lebenszeugnisse oder Spuren gibt, der also fast wie ein anonymer Schreiber jetzt einem breiten Publikum vorgestellt wird, ging nach Israel und arbeitete dort am Aufbau des neuen Staates mit. Zwei seiner längeren Briefe aus dem Jahre 1947 sind intensive Zeitzeugnisse der damaligen Aufbruchsstimmung in dem Land. Sie zeigen auch, dass seine von Verfolgung und Einsamkeit schwer verwundete Seele allein in der Mitarbeit an dem werdenden Staat Israel wenn schon nicht Trost, so doch einen neuen Lebenssinn gewinnen konnte.
Es bleibt ein Unbehagen, persönliche Zeugnisse von einem Menschen in großer seelischer Not und Einsamkeit zu lesen, von dem man außer diesen Briefen nichts weiß. Rechtfertigt die Prominenz der Empfängerin eine Veröffentlichung, für die die Korrespondenz mit Sicherheit nicht vorgesehen war? Das Interesse an solcher Indiskretion hat etwas Fragwürdiges. Aber so etwas passiert, wenn man auch noch die letzten der von der reich gedeckten literarischen Tafel der Ingeborg Bachmann gefallenen Brosamen aufliest.
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2010, 107 S., 15,80 €