Literatur

Eine Katze, viele Mäuse und die Kunst der Fuge

Maria Stepanova, Jan Faktor, Sasha Marianna Salzmann und andere Autoren erinnern sich an ihre erste Kafka-Lektüre

von Katrin Diehl  03.06.2024 00:38 Uhr

Foto: Getty Images

Maria Stepanova, Jan Faktor, Sasha Marianna Salzmann und andere Autoren erinnern sich an ihre erste Kafka-Lektüre

von Katrin Diehl  03.06.2024 00:38 Uhr

Kafka gelesen lautet der Titel einer Anthologie aus dem Fischer Verlag (herausgegeben von Sebastian Guggolz), in der 26 zeitgenössische Autoren und Autorinnen der Aufforderung gefolgt sind, niederzuschreiben, was ihnen zu Franz Kafka einfällt. Keine ganz originelle Idee, aber eine, die Kurzweil verspricht.

Als international wird die Autorenschaft des Sammelbandes angekündigt, einzelne Texte wurden aus dem Norwegischen, dem Isländischen, dem Russischen, dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die Mehrzahl der Schreibenden aber ist deutschsprachig, männlich, gehört (wie könnte es anders sein) der Boomer-Generation an – und viele hatten irgendwie schon einmal mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis zu tun.

Von einer eher überschaubaren Diversität lässt sich da also sprechen, und die Frage nach der Abwesenheit von israelischen Autoren und Autorinnen muss sich das Buch schon gefallen lassen. Auch weil es in Israel eine bemerkenswerte literaturwissenschaftliche (wie identitätsbildende) Auseinandersetzung mit Kafka gibt, weil natürlich Etgar Keret, David Grossman, Zeruya Shalev, um nur die in Deutschland Bekanntesten zu nennen, etwas über »ihren« Kafka zu schreiben gewusst hätten (Amos Oz sel. A. hatte 2013 den Prager Franz-Kafka-Preis erhalten).

Seit nach einem jahrelangen Rechtsstreit 2016 ein großer Teil von Originalmanuskripten Kafkas aus dem Nachlass Max Brods der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zugesprochen wurde und das Material einige neue Erkenntnisse über Werk wie Autor brachte, hätte man sich einen neugierigen Blick Richtung Israel vorstellen können. Schade also, dass der nicht stattgefunden hat.

Die Anthologie Kafka gelesen liest sich jedenfalls gut und ist unterhaltsam. Karl-Markus Gauß merkte sich Kafkas bekannten Aphorismus »Ein Käfig ging einen Vogel suchen« über Jahrzehnte hinweg falsch. Er machte daraus: »Ein Vogel geht einen Käfig suchen« und wusste das auch mit sehr viel Sinn zu unterfüttern.

Sasha Marianna Salzmann berührt mit ihrem Text »Gay Literacy«

Jan Faktor bekommt dagegen eindeutig den Preis für den besten Anfang: »Meine Großmutter sagte mir auf ihrem Sterbebett, ich soll es im Leben niemals wagen, irgendetwas über Kafka zu schreiben. So will ich mich daran … auch hier halten, obwohl meine Großmutter allein im Krankenhaus starb und zu mir über Kafka nie etwas Derartiges gesagt hat.« Er schreibt dann über Bachs Die Kunst der Fuge, weil er das, was er über diesen Musik-Zyklus weiß – gefühlt –, schon immer einmal loswerden wollte. Kafka verliert er dabei natürlich nicht aus den Augen.

Sasha Marianna Salzmann berührt mit ihrem Text »Gay Literacy« sehr, denn heute liegt einiges zur Thematik von Kafkas (Homo-)Sexualität ziemlich offen (und Salzmann öffnet da sehr kundig noch einmal einiges mehr). Für frühere Lesegenerationen bestand kaum das Angebot, Kafkas Texte breiter, diverser, queerer zu lesen (zumal Max Brod da textlich ziemlich eingegriffen hat).

Viele, wie auch die große russische Dichterin Maria Stepanova, kommen an den Mäusen in Kafkas Texten nicht vorbei (Esther Kinsky ersinnt sich dazu eine geheimnisvolle »Kafkas Katze«) – und auch nicht an dessen Humor (»… heute muss ich beim Lesen von Kafka oft lachen«, schreibt Michael Kumpfmüller).

Viele erinnern sich an den ebenso verwirrenden wie erhebenden Moment ihrer ersten Kafka-Lektüre, da war man 14, 15, 16 und irgendwie ziemlich bereit. Manche beschlossen, wie Thomas Stangl, in diesem Moment »Schriftsteller zu sein«. Clemens C. Setz geht der »heiligen Zwirnspule« seiner Faszination für Treppenhäuser und damit für Kafkas Gestalt Odradek nach. Man landet in einer Art Escher-Treppenhaus und weiß: Aus Kafkas Werk wird man niemals ganz hinausfinden.

»Kafka gelesen. Eine Anthologie«. Herausgegeben von Sebastian Guggolz. S. Fischer, Frankfurt 2024, 272 S., 24 €

Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutschers Band »Der nichtjüdische Jude« zeigt Stärken und Schwächen des eigensinnigen Historikers

von Marko Martin  25.11.2024

Sehen!

Fluxus in Köln

Das Museum Ludwig widmet Ursula Burghardt und Ben Patterson eine Doppelausstellung

von Katharina Cichosch  24.11.2024

Amos Oz

Der Fehlbare

Biograf Robert Alter würdigt den Literaten und politischen Aktivisten

von Till Schmidt  24.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Schweißausbrüche, Panikattacken und eine Verjüngungskur auf dem Podium

von Margalit Edelstein  24.11.2024

Kulturkolumne »Shkoyach!«

Wenn Fiktion glücklich macht

Shira Haas und Yousef Sweid sind in »Night Therapy« weitaus mehr als ein Revival der Netflix-Erfolgsserie »Unorthodox«

von Laura Cazés  24.11.2024

Aufgegabelt

Boker tow: Frühstück

Rezepte und Leckeres

 24.11.2024

Auszeichnung

Historiker Michael Wolffsohn erhält Jugendliteraturpreis

Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur würdigt Engagement in der Geschichtsvermittlung

 23.11.2024

Berlin

Nan Goldin eröffnet Ausstellung mit Rede über Gaza-Krieg

Die umstrittene Künstlerin nennt Israels Vorgehen »Völkermord« – »propalästinensische« Aktivisten schreien Museumsdirektor nieder

 23.11.2024 Aktualisiert

Bochum

Gil Ofarim kündigt Konzert an

Gerade erst zeigte er sich geläutert - nun kündigt er neue Pläne an

 22.11.2024