Kafka gelesen lautet der Titel einer Anthologie aus dem Fischer Verlag (herausgegeben von Sebastian Guggolz), in der 26 zeitgenössische Autoren und Autorinnen der Aufforderung gefolgt sind, niederzuschreiben, was ihnen zu Franz Kafka einfällt. Keine ganz originelle Idee, aber eine, die Kurzweil verspricht.
Als international wird die Autorenschaft des Sammelbandes angekündigt, einzelne Texte wurden aus dem Norwegischen, dem Isländischen, dem Russischen, dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die Mehrzahl der Schreibenden aber ist deutschsprachig, männlich, gehört (wie könnte es anders sein) der Boomer-Generation an – und viele hatten irgendwie schon einmal mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis zu tun.
Von einer eher überschaubaren Diversität lässt sich da also sprechen, und die Frage nach der Abwesenheit von israelischen Autoren und Autorinnen muss sich das Buch schon gefallen lassen. Auch weil es in Israel eine bemerkenswerte literaturwissenschaftliche (wie identitätsbildende) Auseinandersetzung mit Kafka gibt, weil natürlich Etgar Keret, David Grossman, Zeruya Shalev, um nur die in Deutschland Bekanntesten zu nennen, etwas über »ihren« Kafka zu schreiben gewusst hätten (Amos Oz sel. A. hatte 2013 den Prager Franz-Kafka-Preis erhalten).
Seit nach einem jahrelangen Rechtsstreit 2016 ein großer Teil von Originalmanuskripten Kafkas aus dem Nachlass Max Brods der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zugesprochen wurde und das Material einige neue Erkenntnisse über Werk wie Autor brachte, hätte man sich einen neugierigen Blick Richtung Israel vorstellen können. Schade also, dass der nicht stattgefunden hat.
Die Anthologie Kafka gelesen liest sich jedenfalls gut und ist unterhaltsam. Karl-Markus Gauß merkte sich Kafkas bekannten Aphorismus »Ein Käfig ging einen Vogel suchen« über Jahrzehnte hinweg falsch. Er machte daraus: »Ein Vogel geht einen Käfig suchen« und wusste das auch mit sehr viel Sinn zu unterfüttern.
Sasha Marianna Salzmann berührt mit ihrem Text »Gay Literacy«
Jan Faktor bekommt dagegen eindeutig den Preis für den besten Anfang: »Meine Großmutter sagte mir auf ihrem Sterbebett, ich soll es im Leben niemals wagen, irgendetwas über Kafka zu schreiben. So will ich mich daran … auch hier halten, obwohl meine Großmutter allein im Krankenhaus starb und zu mir über Kafka nie etwas Derartiges gesagt hat.« Er schreibt dann über Bachs Die Kunst der Fuge, weil er das, was er über diesen Musik-Zyklus weiß – gefühlt –, schon immer einmal loswerden wollte. Kafka verliert er dabei natürlich nicht aus den Augen.
Sasha Marianna Salzmann berührt mit ihrem Text »Gay Literacy« sehr, denn heute liegt einiges zur Thematik von Kafkas (Homo-)Sexualität ziemlich offen (und Salzmann öffnet da sehr kundig noch einmal einiges mehr). Für frühere Lesegenerationen bestand kaum das Angebot, Kafkas Texte breiter, diverser, queerer zu lesen (zumal Max Brod da textlich ziemlich eingegriffen hat).
Viele, wie auch die große russische Dichterin Maria Stepanova, kommen an den Mäusen in Kafkas Texten nicht vorbei (Esther Kinsky ersinnt sich dazu eine geheimnisvolle »Kafkas Katze«) – und auch nicht an dessen Humor (»… heute muss ich beim Lesen von Kafka oft lachen«, schreibt Michael Kumpfmüller).
Viele erinnern sich an den ebenso verwirrenden wie erhebenden Moment ihrer ersten Kafka-Lektüre, da war man 14, 15, 16 und irgendwie ziemlich bereit. Manche beschlossen, wie Thomas Stangl, in diesem Moment »Schriftsteller zu sein«. Clemens C. Setz geht der »heiligen Zwirnspule« seiner Faszination für Treppenhäuser und damit für Kafkas Gestalt Odradek nach. Man landet in einer Art Escher-Treppenhaus und weiß: Aus Kafkas Werk wird man niemals ganz hinausfinden.
»Kafka gelesen. Eine Anthologie«. Herausgegeben von Sebastian Guggolz. S. Fischer, Frankfurt 2024, 272 S., 24 €