Franz Kafka

Eine Jugend in Prag

Franz Kafka auf dem Altstädter Ring in Prag Foto: dpa

Franz Kafka

Eine Jugend in Prag

Im dritten Teil seiner großen Biografie beschreibt Reiner Stach die frühen prägenden Jahre des Schriftstellers

von Wolf Scheller  03.11.2014 18:36 Uhr

Franz Kafkas Genius, so hat es der amerikanische Literaturhistoriker Harold Bloom formuliert, »war für die Einsamkeit gedacht. Er lehrt uns, dass wir nichts mit uns selbst gemein haben, geschweige denn miteinander«. Der Berliner Kafka-Forscher Reiner Stach hat 2002 und 2008 in den ersten Bänden seiner dreiteiligen Kafka-Biografie Leben und Werk dieses Prager Genies in seiner ganzen Autonomie dargestellt, Kindheit und Jugend dabei weitgehend ausgelassen. Diese Lücke schließt Stach jetzt mit dem dritten Band Kafka: Die frühen Jahre.

Diese frühen Jahre, die Zeit von der Geburt 1883 bis 1911, zeigen nicht nur die Entwicklung Kafkas in ihren privaten Hemmungen und zerebralen Unstimmigkeiten. Stach erzählt vom jüdischen Leben in Prag, vom Dualismus zwischen Tschechen und Deutschen, deren Nachbarschaft immer wieder bedroht wird durch nationalistische Ausbrüche auf beiden Seiten – und die Juden dazwischen als Sündenböcke wie eh und je.

vater Die Biografie zeichnet nach, wie sich das Kind Franz Kafka in dieser Umgebung mühsam behauptet, gegen die Autorität des Vaters, der ihm als Riesenmensch begegnet, in der Schule, die er trotz seiner Position als Vorzugsschüler nur als »Angstanstalt« wahrnimmt, wie er sich das Abitur ermogelt, sich durch die »jüdischen Lektionen« heuchelt, das ungeliebte Jurastudium mit der Promotion beschließt, das Schreiben in seiner »geheimen Dichterschule« betreibt – und dabei die Angst als »Feind im Kopf« nicht los wird. Nur seiner Schwester Ottla und dem Tagebuch kann er sich anvertrauen: »Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als in mir sie zurückhalten.«

Prüde ist der junge Kafka nicht. Er bevorzugt für seine Erotik die Prager Dirnen, besucht Cafés und Kinos. In der Phase der Adoleszenz spielt das andere Geschlecht für Kafka die wichtigste Rolle. »Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?«, schreibt er nach einem belanglosen Flirt in Weimar an Max Brod. Das war noch bevor er Felice Bauer kennengelernt hatte, mit der er sich später zweimal verloben sollte. Seiner späteren Freundin Milena Jesenská berichtet er über die inzwischen abgeschlossene Beziehung zu Felice: »Fast 5 Jahre habe ich auf sie eingehauen (oder, wenn Sie so wollen, auf mich) ...«

frauen Kafka brauchte Frauen, die auf sein Gefühl reagierten, ohne ihm dabei zu nahe zu kommen, ohne ihn zu stören oder gar zu verwirren. Im Sommer 1908, nach einem mehrtägigen Ausflug in den Böhmerwald spricht er eine Prostituierte an und schreibt später an Brod: »Ich habe sie nicht getröstet, da sie auch mich nicht getröstet hat.«

Hat Kafka die Frauen gefürchtet, hat er sie insgeheim verabscheut, gehasst – weil sie für ihn das Leben verkörperten? Hatte er deswegen das Bedürfnis, diese Frauen zu nötigen – ohne sie freilich zu sehen oder zu berühren? So erging es Felice Bauer, die er dazu zwang, ihm nahezu täglich Briefe zu schreiben. Diese exzessive Korrespondenz, in der sich Kafkas erotische Imagination erschöpfte, hat Reiner Stach schon vor Jahren beschäftigt, als er mit einer wissenschaftlichen Arbeit über Kafkas »erotischen Mythos« hervortrat.

anschaulich Kafka ist längst, wie Susan Sontag in ihrem Essay »Against Interpretation« geschrieben hat, »zum Opfer einer Massenvergewaltigung« geworden, für das die Kafka-Forschung mit ihren tausenderlei Interpretationsansätzen verantwortlich ist. In dieser internationalen Kafka-Industrie ist das Werk, aber auch die Person, oft kaum noch zu erkennen.

Reiner Stach schlägt einen anderen Weg ein: Er verzichtet weitgehend auf Interpretation, hält sich fern von spekulativer Psychologie und konzentriert sich ganz aufs Erzählen. Und das gelingt ihm außerordentlich. Wenn Biografie heute mehr sein kann als eine Aneinanderreihung von Lebensdaten, mehr als trockene Chronik, dann liefert Stach hierfür einen glänzenden Beweis. Dieser Biograf nähert sich Kafka ohne das Bedürfnis, sich mit irgendeiner Deutungsschule gemein zu machen.

Er erzählt sensibel und anschaulich, wie sich die Persönlichkeit des Dichters in diesen Jahren entfaltet mit all ihren Paradoxien, ihren Ungereimtheiten, wie sich dieses Leben hin zum Schreiben entwickelt. Man kann sagen, dass Reiner Stach tatsächlich mit dieser jetzt vollendeten Biografie Franz Kafka zu neuem Leben erweckt hat.

Reiner Stach: »Kafka. Die frühen Jahre«. S. Fischer, Frankfurt/Main 2014, 607 S., 34 €

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  01.05.2025

Donna Anna (Adela Zaharia) und Don Ottavio (Agustín Gómez) in »Don Giovanni/Requiem«

Oper

Requiem nach der Höllenfahrt

Der Exilrusse Kirill Serebrennikov erschüttert mit »Don Giovanni« in Berlin

von Maria Ossowski  01.05.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

Sehen!

»Der Meister und Margarita«

In Russland war sie ein großer Erfolg – jetzt läuft Michael Lockshins Literaturverfllmung auch in Deutschland an

von Barbara Schweizerhof  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

von Niklas Hesselmann  30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025