Julia von Heinz

»Eine innere und äußere Reise«

Die Regisseurin über ihren neuen Kinofilm, Erinnerungskultur und Bashing auf Social Media

von Katrin Richter  12.09.2024 09:00 Uhr

Regisseurin Julia von Heinz (48) hat mit »Treasure – Familie ist ein fremdes Land« einen Roman von Lily Brett verfilmt. Foto: Peter Hartwig

Die Regisseurin über ihren neuen Kinofilm, Erinnerungskultur und Bashing auf Social Media

von Katrin Richter  12.09.2024 09:00 Uhr

Frau von Heinz, mehr als ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem Ihr Film »Treasure – Familie ist ein fremdes Land« bei der Berlinale Premiere feierte. Wie haben Sie die vergangenen sieben Monate erlebt?
Ich fand den Kontext der Berlinale aufwühlend – auch den politischen Kontext, in dem sich unser Film bewegt hat. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich Worte dafür gefunden habe, warum ich es so anstrengend fand, was das politische Klima mit dem Film macht und wie beides aufeinander wirkt.

Könnten Sie das näher beschreiben?
Mir ist klar geworden, warum mir Erinnerungskultur so wichtig ist. Das hatte ich vorher für mich nicht formuliert. Ich wollte diesen Film immer machen, deshalb war es für mich gar keine Frage, und auch für niemanden sonst. Erst nach der Berlinale gab es plötzlich Vorwürfe wie: »Filme wie dieser rechtfertigen israelische Kriegspolitik« und so weiter. Solche Vorwürfe habe ich aber ausschließlich auf Social Media gelesen.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe mich zurückgezogen und aufgeschrieben, warum ich Erinnerungskultur wichtig finde – und zwar so wichtig wie nie zuvor. Sie war für mich bisher eine Selbstverständlichkeit. Ich konnte die Erinnerungskultur schon immer gegen die AfD in Schutz nehmen, die sie gänzlich abschaffen möchte. Aber ich habe noch nie gegenüber der progressiven Linken oder gegenüber der Kulturszene für mich formulieren müssen, warum ich Erinnerungskultur, auch im Film, für bedeutsam halte. Dazu habe ich einen Artikel in der »Zeit« verfasst. Das war das Ergebnis meiner Auseinandersetzung direkt nach der Berlinale. Als ich für mich diese Antworten gefunden hatte, wurde mir auch wieder klar, wie wichtig mir der Film ist und wie sehr ich den Rest meines Jahres der Begleitung von »Treasure« widmen möchte.

Erinnern Sie sich an eine der Vorführungen ganz besonders?
Ich habe den Film in Krakau gezeigt. Das war wirklich fantastisch und interessant, weil es in Polen wenig Erinnerungskultur gibt, die das Unrecht gegenüber der jüdischen Bevölkerung thematisiert. Es war ein Screening mit vielen jungen Leuten, und das war eindrücklich. Aber das Eindrücklichste war meine Reise nach New York, wo ich das Gefühl hatte, dass dort »My Girls« waren – also viele Frauen um die 60, 70, die dort leben, die jüdisch-osteuropäische Wurzeln haben und selbst in den 90er-Jahren diese Reisen unternommen haben. Ich hatte plötzlich das Gefühl: Für sie habe ich den Film gemacht. Das war bewegend. Dann gab es viele Kinostarts in den unterschiedlichsten Ländern. Und da haben wir, die Schriftstellerin Lily Brett (deren Roman »Zu viele Männer« Vorbild für »Treasure« war, Anmerkung der Redaktion), Lena Dunham und ich, sehr viele Reaktionen bekommen, die wir uns einander hin und her schicken. Und das bedeutet mir viel.

Hatten Sie auch in den USA das Gefühl, sich für das Thema des Films rechtfertigen zu müssen?
Lena Dunham hat das zu spüren bekommen. Ihre Sichtbarkeit als Schauspielerin ist sehr groß in den USA. Wann immer sie etwas zum Film auf Instagram gepostet hat, gab es Kommentare, ob das ihr Beitrag zu Gaza wäre. Leute posten Wassermelonen-Emojis und schreiben »Free Palestine«.

Verhält es sich bei Stephen Fry ähnlich? Auch er ist sehr stark präsent in den Sozialen Medien.
Er hält sich bedeckt zu dem Thema, weil er 2023 die »Alternative Christmas Message« für die Zeitung »The Guardian« zu Antisemitismus und Holocaust-Leugnung gehalten hat und damals mit einem enormen Backlash konfrontiert wurde, der ihn wirklich schwer verletzt hat – als linken, schwulen Mann, der immer für progressive und humanistische Werte eingetreten ist.

In »Treasure – Familie ist ein fremdes Land« begleiten wir Ruth und ihren Vater Edek Anfang der 90er-Jahre auf einer Reise nach Polen. Wie entdecken die Tochter und er das fremde Land Polen – und das fremde Land Familie?
Es gibt die innere und die äußere Reise. Beide sind sehr wichtig. Die äußere Reise geht durch drei Städte: Warschau – davon sehen wir wenig –, Łódź, die Herkunftsstadt der Familie, und Krakau mit dem nahe gelegenen Auschwitz. Den Orten, die die Protagonisten besuchen, kann Edek sich zunehmend weniger emotional entziehen, obwohl er das gern würde, weil sie eine solche Intensität ausüben. Die innere Reise, auch durch viele Begegnungen, ist die Annäherung von Tochter und Vater – die Reise zueinander.

Wie haben Sie die beeindruckenden Nebendarsteller gefunden?
Zbigniew Zamachowski, der den Autofahrer Stefan spielt, ist in Polen sozusagen ein Nationalheiliger. Mein Produzent Fabian Gasmia hat ihn mir empfohlen. Alle anderen hat uns Magdalena Schwarzbart gefunden, eine ganz großartige Casterin. Sie hat schon »Schindlers Liste« und »The Zone of Interest« besetzt.

Lena Dunham und Stephen Fry, die Hauptdarsteller, haben sich beide mit ihrer Familiengeschichte befasst. Wie hat sich das auf den Film ausgewirkt?
Stephen Fry war sehr weit. Er hatte viel erforscht, und seine Reise ist auch in einer Dokumentation festgehalten. Zwei seiner Tanten wurden im KZ Stutthof ermordet, und ein Foto seiner Tanten hat er für den Film zur Verfügung gestellt. Das ist für mich natürlich eine zusätzliche hochemotio­nale Ebene. Außerdem hat er Edek an den Charakter seines Großvaters angelehnt. Lena Dunhams Aufzeichnung für die TV-Doku-Reihe »Finding Your Roots« lief Anfang April beim amerikanischen Fernsehsender PBS. Wir haben Anfang Mai aufgehört zu drehen. Das heißt, diese größere Erkenntnis darüber, woher ihre Familie kam, folgte unmittelbar darauf. Ihre Mutter hatte sie in Polen angerufen und sagte: »Wir kommen aus Łódź«, und dann begann die Recherche.

Was hat Lena Dunham herausgefunden?
Dass die vielen Geschwister ihrer Urgroßmutter, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewandert ist, alle zurückgeblieben sind und wohl nicht überlebt haben. Ein Urgroßonkel konnte nach Budapest fliehen und hat dort eine Familie gegründet. Von allen anderen gibt es keine Spur mehr. Für uns war das auch sehr bewegend, weil klar wurde, wie zufällig Lenas eigene Existenz ist.

War das ein Thema beim Dreh? Diese Zufälligkeit?
Wir haben uns viel Zeit genommen: Als wir in Auschwitz gedreht haben, waren wir zwei Tage vorher dort und hatten Zeit zu sprechen, uns den Ort mit einer Führung anzusehen. Mehrfach. Es waren Verwandte von Lena und Stephen dabei. Es gab viele solche Gespräche in der Gruppe.

Sie haben viel in Ostdeutschland gedreht.
Hauptsächlich Halle war ein Ort, an dem wir vieles gefunden haben. Auch Gera. Ich finde es interessant, dass diese kleinen »Inseln« noch einen Hauch von Osteuropa an sich haben.

Was ist Ihnen beim Dreh besonders in Erinnerung geblieben?
Auschwitz. Auch für uns war es neu, auf einem Cherry-Picker-Kran zu sitzen und diese riesige Dimension von oben selbst zu sehen. Es gibt die »Alte Judenrampe«, das sind die Schienen, wo die Waggons 1944 ankamen und die dort noch genauso erhalten sind. Das ist kein Memorial oder Denkmal. Und da sind die Versorgungshäuser, in denen Häftlinge gearbeitet haben. Das sind einfach zerfallene Ruinen, die an diesen Schienen stehen. Sie sind nicht geschützt, auch nicht als Denkmal. Eigentlich müsste die deutsche Regierung Geld investieren, damit diese Orte erhalten und für Besucher zugänglich bleiben. Dort liegt und steht alles wie vor 80 Jahren. Es bleibt für mich unvergesslich, dort zu drehen.

Auf dem Gelände selbst darf man ja nicht drehen.
Alles, was man im Film außerhalb des Lagerzauns sieht, ist der echte Ort. Da durften wir unsere drei oder vier historischen Autos hinstellen und auf dem Parkplatz drehen. Wir durften am Zaun entlangfahren, ganz früh morgens im Februar. Wir durften aber den Publikumsverkehr nicht stören, denn wenn jemand in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau fährt, ist das meistens eine lange vorbereitete Reise. Lily Brett hat uns gezeigt, welches die Baracke ihres Vaters war, in der er überlebt hat. Da durfte ich auch mit Stephen Fry hingehen, sodass er – es gibt ja nur noch die Grundpfeiler, die Baracken wurden niedergebrannt von den Deutschen, um alles zu vertuschen – den authentischen Ort gesehen hat. Dann haben wir ihn auf einer Art Fußballfeld, zwei Kilometer von Auschwitz entfernt, nachgebaut und vor einem Greenscreen gedreht. Aber Stephen Fry hat zuvor den echten Ort erfahren.

Noch eine Frage zur aktuellen politischen Situation: Befürchten Sie nach den jüngsten Wahlen in Thüringen und Sachsen, dass Projekte der Erinnerungskultur in Zukunft weniger gefördert werden?
Ich habe bei »Treasure«, bei meinem Film »Und morgen die ganze Welt« und auch bei früheren Projekten viel Förderung und Zuspruch bekommen. Aber ich betrachte mit Sorge, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Gefahr ist, während die Stiftung der AfD finanziell wächst. Ich bin sehr besorgt.

Mit der Filmemacherin sprach Katrin Richter. »Treasure« ist ab dem 12. September im Kino zu sehen.

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