Hillel, die 1923 gegründete Stiftung für jüdisches Leben auf dem Universitätscampus, ist eine der wichtigsten jüdischen Organisationen in den USA. Hillel verfolgt das Ziel, jüdischen Studenten einen organisatorischen Rahmen an der Hochschule zu bieten und sie zum langfristigen Engagement im jüdischen Leben zu bewegen. Im April 2012 hat der Vorstand von Hillel beschlossen, eine Strategie für den Ausbau der globalen Rolle der Organisation auszuarbeiten. In Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich Hillel entschieden, in der Bundesrepublik als dem ersten europäischen Land außerhalb der früheren Sowjetunion tätig zu werden. Wir sprachen mit Wayne Firestone, dem Präsidenten und Geschäftsführer von Hillel.
Herr Firestone, seit wann ist Hillel außerhalb der USA tätig, und welchen Umfang hat diese Tätigkeit erreicht?
Unsere ersten Aktivitäten außerhalb der USA fanden in den 50er-Jahren in Großbritannien und Israel statt. In den 90er-Jahren wurden wir in der ehemaligen Sowjetunion aktiv. Damals erlebte jüdisches Leben in den ex-sowjetischen Republiken einen Aufschwung, war aber auch auf Hilfe angewiesen. Heute sind 17 Hillel-Zentren in der ehemaligen Sowjetunion tätig, elf in Israel und sechs in Lateinamerika. Ein weiteres Dutzend Zentren wird unter dem Namen Hillel von assoziierten Organisationen betrieben, unter anderem in Australien.
Kommt die Entscheidung, eine globale Strategie zu formulieren, angesichts dieser bereits bestehenden internationalen Präsenz nicht ein bisschen zu spät?
Unsere Entscheidung markiert den Beginn einer neuen Phase. Wir wollen unsere globale Rolle ausbauen und sie auf eine feste Grundlage stellen. Das wird ohne eine gut durchdachte Strategie nicht möglich sein. Für globalen Erfolg braucht man eine globale Vision.
Wie unterscheidet sich die Tätigkeit von Hillel in anderen Ländern von der in den USA?
Das Ziel ist dasselbe: die Stärkung eines langfristigen Engagements jüdischer Studenten im jüdischen Leben, bei jüdischen Studien und beim Einsatz für Israel. Allerdings unterscheiden sich die Bedingungen in anderen Ländern wesentlich von der Lage in den USA: Kein anderes Land in der Diaspora kann eine ähnlich große jüdische Studentenschaft vorweisen. Es gibt kulturelle, historische und sprachliche Unterschiede. Deshalb wird unsere globale Strategie Raum für Anpassung an die Besonderheiten jedes Landes lassen. Es ist wichtig, dass jedes Hillel-Zentrum seine eigenen lokalen Mitarbeiter sowie seine eigenen Amtsträger hat. Wir brauchen örtliche Fachkräfte und ehrenamtliche Führungspersönlichkeiten, mit denen wir zusammenarbeiten können. Wir haben Arbeitsmethoden entwickelt, zum Beispiel die sogenannte 70:40:20-Regel. Wir wollen die Namen von 70 Prozent aller jüdischen Studenten an der jeweiligen Universität erfassen, 40 Prozent zu inhaltsvoller jüdischer Aktivität bewegen und 20 Prozent zur Übernahme von Führungspositionen motivieren.
Wie sehen Ihre Pläne für Deutschland aus?
Da befinden wir uns erst in der Frühphase, doch nehmen die Grundideen Gestalt an. Wir werden eng mit dem Zentralrat der Juden zusammenarbeiten. Der Zentralrat verfügt über lokales Wissen, das uns fehlt. Unser Vorstandsvorsitzender Tom Blumberg und ich sind mit dem Generalsekretär des Zentralrats, Stephan J. Kramer, zusammengekommen, und ich kann mit Genugtuung sagen, dass Hillel und der Zentralrat dieselben Prioritäten setzen. Beide wollen, dass Hillel alle Strömungen des Judentums einschließt – für uns eine entscheidend wichtige Verkörperung jüdischen Pluralismus. Und ebenso wie wir will auch der Zentralrat der jungen Generation mehr Verantwortung übertragen. Das sieht man nicht überall.
Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?
Beide Organisationen erkennen die Notwendigkeit an, Potenziale für größere Synergie und Zusammenarbeit mit bestehenden Organisationen, Netzwerken und Einrichtungen zu erschließen. Ich habe zum Beispiel erfahren, dass der Zentralrat ein Netzwerk ehemaliger Reiseteilnehmer von Taglit/Birthright Israel ins Leben rufen will. Nun sind Taglit-Teilnehmer auch für Hillel eine zentrale Zielgruppe. Übereinstimmung herrscht zudem darüber, dass Hillel am Anfang einige Aktivitätsschwerpunkte in Deutschland aufbauen sollte, auch wenn bisher noch keine konkreten Entscheidungen über Standorte gefallen sind. Zudem haben wir Teilnehmer aus Deutschland zu unserer internationalen Hillel-Institute-Konferenz in St. Louis für die zweite Augustwoche eingeladen. Die Konferenz wird durch eine Vielfalt von Trainingsprogrammen ergänzt. Diese Erfahrung wird ein besseres Verständnis unserer Arbeit vermitteln und es ermöglichen, unter den 1.000 Teilnehmern aus der ganzen Welt Ansprechpartner zu finden.
Wird Hillel Deutschland den sogenannten nichthalachischen Juden offenstehen?
Ja. Offenheit ist uns wichtig. Wir sind gern bereit, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich selbst als Juden definieren, sich als Juden fühlen und als Juden handeln. Wir bestehen nicht auf der Erfüllung halachischer Kriterien. Allerdings würden wir keine Personen aufnehmen, deren Verhalten auf die Zugehörigkeit zu einer nichtjüdischen Religionsgemeinschaft hinweist, wie etwa sogenannte messianische Juden oder Jews for Jesus. Das ist weltweit unsere Politik, die auch in Deutschland gelten wird.
Das Gespräch führte Wladimir Struminski.