»Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.« Dieser Satz des Patriarchen brennt sich ins Gedächtnis. Schon bei der ersten Begegnung mit Gotthold Ephraim Lessings Toleranzstück Nathan der Weise als Schullektüre. Jetzt, wenn ihn ein kollektiver Patriarch dem jungen Tempelherrn so entgegenschleudert, dass der nicht weiß, wie ihm geschieht.
Und dann natürlich die Ringparabel, dieses so raffiniert einfache Juwel mitten im erschreckend aktuell wirkenden Stück, um die herum Lessing eine unwahrscheinlich wirkende Alle-sind-verwandt-Story gebaut hat. Beide Szenen sind angesteuerte Höhepunkte in Ulrich Rasches jüngster Salzburger Festspiel-Inszenierung des aufklärerischen Klassikers fürs Selbstverständnis einer liberalen, toleranten Gesellschaft.
MASCHINENTHEATER Rasches Maschinentheater – oder seine Theatermaschine – ist ein Phänomen. Äußerlich sofort wiedererkennbar, weil er stets alle realistisch naturalistischen Zutaten beiseite lässt und ganz eigene Überwältigungsräume erfindet. Diesmal auf der Perner-Insel in Hallein, der längst nicht mehr heimlichen Festspiel-Hauptbühne fürs Schauspiel.
Mit dem jüngsten Zuwachs seines Maschinenparks setzt er auf sich gegeneinander drehende konzentrische Laufkreise für die Darsteller. Dazu gibt es drei ebenso konzentrische Ringe in der Höhe, die fünf mit LED-Lichtern ausgestattete Säulen durch den Raum schweben lassen und so faszinierende Raumvarianten erzeugen können. Einschließlich transparenter Mauern aus Licht, durch die die Darsteller auftauchen und wieder verschwinden können. Wobei sie immer gehen: vorwärts, rückwärts, langsamer, schneller, oft seitlich. Wenn hier einmal jemand einfach stehen bleibt, entspricht das einem Ausraster im modernen Brülltheater. Flüstern oder Stille gehören nicht zu Rasches Stilmitteln.
Das Dauer-Wummern, das Nico van Wersch komponiert hat und das vier Musiker live mit Keyboard, Percussion, Bass und Synthesizer beisteuern, ist kein zurückgenommenes Hintergrund-Bling-Bling. Es ist ein immer wieder ins Crescendo fallendes Begleiten, das den Worten Gewicht verleiht, einen Schutzschild liefert, Pathos befeuert, Aufmerksamkeit erzwingt.
MALSTROM Wer nicht bewusst abschaltet, der gerät in den Malstrom einer Wortmusik, die sich genau darauf verlässt: auf den Text, den sie in den Raum schleudert. Die artifizielle Künstlichkeit dieser speziellen Art von Theater dringt gerade dadurch unmittelbar zum Text und seiner Botschaft vor.
Es wird oft chorisch gesprochen, manche Figuren aus der Christenecke des Personals (wie der fanatische Patriarch oder die schlichte Amme von Recha) treten nur kollektiv auf. Das berühmte »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt« klingt so mehr nach Mob als nach Kirchenfürst. Sie sind in ihrem Dogma des eigenen Glaubens gefangen. Individualität würde Mut zum Denken, zum Eindenken in die Position des anderen voraussetzen.
Valery Tscheplanowa spielt den weißen, weisen alten Mann par excellence. Auf den ersten Blick wirkt das zwar wie eine allfällige Verbeugung vor dem Zeitgeist. Doch egal, was sich die Dramaturgie dabei gedacht hat, eine Extra-Attacke aufs Patriarchat ist eine solche Besetzung auch hier nicht. Sie beweist vor allem, dass die Schauspielerei eine Profession ist, die eben nicht eine persönliche Nähe oder gar partielle Identität zur oder mit der Rolle voraussetzt.
ÜBERTITEL Eine Frau vom Range der Tscheplanowa kann natürlich einen Nathan spielen. Vor allem: weil sie es kann. Außerdem hat sie den Autor Lessing im Rücken. Der plädiert zwar dafür, die drei Buch-Religionen als gleichwertig zu betrachten, vor allem nimmt er aber die Vertreter seiner eigenen besonders kritisch unter die Lupe. Rasche setzt da noch eins drauf und fügt (in den Übertiteln gekennzeichnet) antijüdische Ausfälle der Philosophen Fichte und Voltaire ein.
Bei all diesem streng formalen Gang der Dinge, Menschen und Worte kommt gleichwohl Individuelles ins Spiel. Bei Saladin etwa, dem Nicola Mastroberardino eine gewisse Eleganz in seiner Verblüffung über die Raffinesse von Nathan zugesteht. Oder bei Almut Zilcher, die aus Saladins Schwester Sittah eine geradezu gewitzte Beraterin macht. Und wenn Memet Ateşçi als Tempelherr mit seiner Leidenschaft für Recha (Julia Windischbauer) ringt, bietet das Ideentheater um ein Haar auch noch eine Liebesgeschichte.